Zeitfinsternis
alles so war, wie es hätte sein können, wenn man König war. Er war sich sicher, daß sein verstorbener, beweinter Vater solche Schwierigkeiten nicht gehabt hatte. Solche Dinge waren aber auch noch nie vorher geschehen. Außerdem war da niemand, den er um Rat fragen konnte. Alle waren so verblüfft wie er. Bischof Lamarck konnte man noch am ehesten verstehen, der ihm pedantisch zuflüsterte, daß die Wege des Herrn geheimnisvoll und unbegreiflich seien.
„Seid Ihr sicher?“ fragte er.
„Ja, Euer Majestät“, sagte der Mann, der zwischen zwei Wachen vor ihm kniete. „Es ist genauso geschehen, wie ich es gesagt habe.“
Der König nickte und sagte dann zu den Wachen: „Bringt ihn weg.“
„Aber…“, protestierte der Mann, als die Soldaten ihn rückwärts zur Tür schleppten. „Er hat mich gewarnt, ich solle meinen Mund halten, wenn ich wüßte, was gut für mich ist – wenn nicht, würde es mir schlecht ergehen. Trotzdem habe ich gewußt, was meine Pflicht ist, und ich hatte gehofft, daß Ihr…“ Dann war er aus dem Audienzraum heraus, und seine Stimme wurde abgeschnitten, als die Schwingtür wieder zufiel.
Anders, Lawrence. Und jetzt – wie war sein Name – Resnais. Alle tot. Anders in der Schlacht gefallen; Lawrence von Resnais umgebracht; Resnais in einem Stall von einem unbekannten Zauberer getötet, der weggeritten war. Napoleon wußte nach der Beschreibung des Kampfes zwischen den beiden, daß er ein Zauberer war – sie allein besaßen Zauberstäbe. Warum sollte ein anderer Zauberer Resnais umbringen? Wahrscheinlich war er der Hochstapler gewesen, und sein Tod war die Rache für den Mord an Lawrence. Wenn die Sache so stand, warum war der Mann dann weggeritten? Der lothringische Königshof hatte keinen Zauberer, zumindest zur Zeit. Würde sich nun ein anderer Zauberer dem König vorstellen oder nicht?
Dann waren da noch die Berichte über verschiedene Arten von Ungeheuern und seltsamen Tieren, die im gesamten Königreich ihr Unwesen trieben, darunter eines, das angeblich ganze Dörfer auffraß – aber das wollte Napoleon doch nicht so recht glauben.
Er wandte sich einem Hauptmann seiner Armee zu. „Erzählt mir noch einmal, wie groß es war.“
„So groß wie ein Haus, Sire.“
„Und es ist aus dem Boden gestiegen?“
„So ist es“, stimmte der Soldat zu. „Es hat mit seinen riesigen Zähnen die Erde selbst aufgerissen.“
„Und Ihr seid weggelaufen und habt den Mann entkommen lassen, den Ihr verfolgt hattet?“
„Nein, Sire!“ Er sah sich empört in dem Raum um, als suche er nach jemandem, der es wagte, das ebenfalls zu glauben. „Es nahm ihn und sein Pferd in sein gigantisches Maul, und obwohl wir es angriffen, verschwand es im Boden, aus dem es gekommen war.“
„Und den Mann und sein Pferd hat es mitgenommen?“
„Ja.“
„Hat es ein Loch gelassen?“
„Loch“, wiederholte der Hauptmann, dessen Vorname Raul war, „Euer Majestät?“
Napoleon nickte. „Wo es herausgekommen und wieder verschwunden ist. Ein Tunnel zum Mittelpunkt der Erde, durch den Ihr es hättet verfolgen können.“
„Nein, Sire.“
„Das habe ich mir gedacht.“
Sie wußten noch nicht einmal genau, wer der Mann gewesen war. Nach einem Bericht ein Saarländer. Was hatte er in Verdun zu tun? War er wirklich gekommen, um den Hauptmann umzubringen, damit es keine Überlebenden der Schlacht gab? Wenn das der Fall war, dann hatte er jedenfalls Erfolg gehabt. Warum aber war er dann nach Westen geritten und nicht zurück ins Saarland? Und wo war er jetzt? Hatte ihn wirklich eine unterirdische Bestie mitgenommen, oder war das eine Lügengeschichte, die die Soldaten erfunden hatten, weil es ihnen nicht gelungen war, ihn zu fangen? Napoleon hatte noch nie etwas davon gehört, daß solche Wesen unter der Erde lebten. Zwerge und ähnliche Scheußlichkeiten, natürlich, aber nicht haushohe Bestien mit Zähnen so groß wie Säulen.
Und hatte er nicht den Befehl gegeben, daß der fragliche Hauptmann festgenommen werden sollte? Welches Recht hatte er dazu, sich in einem Wirtshaus umbringen zu lassen? Vielleicht hatten die Wachen seinen Befehl falsch verstanden. Im Moment gab es eine Menge, woran er sich nicht mehr erinnern konnte. Diese Frau zum Beispiel – war sie nicht ursprünglich mit dem toten Hauptmann hergekommen?
Er hatte den Befehl gegeben, sie zu finden, oder nicht? Oder hatte er das nur vorgehabt? Er hatte vorgehabt, Lawrence anzuweisen, seine zauberischen Fähigkeiten dazu einzusetzen,
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