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Zeitfinsternis

Zeitfinsternis

Titel: Zeitfinsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David S. Garnett
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Berge waren zu überqueren, Hunderte von Kilometern von totem und leerem Land, und schließlich gab es da noch eine unendliche Wasserfläche namens Mittelmeer.
    Ich las gerade über die Pygmäen, deren Himmelsgott einen Bogen – einen Regenbogen – hatte, der aus Schlangen bestand und der den Menschen in der Form eines Chamäleons – ein kleines afrikanisches Tier, wie ich annahm – oder eines Elefanten im Traum erschien. Alles schien bei mir wieder auf die Elefanten zurückzuführen, denn ich fand auch noch ein kleines Stück Papier, auf das jemand sorgfältig geschrieben hatte:
     
    Geographen pflegen in Afrikas Karten die Lücken
    Mit Bildern seltsamer Tiere zu schmücken,
    Und in unbewohnten Tälern und Höhen
    Sind Elefanten statt Städte zu sehen.
    Jonathan Swift
     
    Den Beobachter Swift kannte ich persönlich nicht, aber er gehörte zweifellos zu denen, die für mich die Angaben über Afrika zusammengestellt hatten.
    „Das kommt nicht noch einmal vor“, hatte er gesagt. „Du brauchst keine Angst zu haben, dazu besteht kein Anlaß.“
    Sonya wußte das besser.
    Sie hätte ihm erzählen sollen, was vor sich ging. Er hätte einen Weg gefunden, um sie zu beschützen – selbst wenn dies bedeutet hätte, daß der Erste alles erfuhr. Oder wußte der Erste Wächter schon alles, und es war deshalb zu spät, etwas zu unternehmen?
    David hätte es verstanden, wenn sie es ihm in der Nacht, als er zurückkam, vernünftig erklärt hätte. Vielleicht hätten sie für eine Zeitlang an die Oberfläche fliehen können. Es gab eigentlich keinen Grund zum Zurückkommen: Wie der Coup auch ausging, es konnte gefährlich sein, wenn man zurückkam. Selbst als er sagte, daß er wieder nach oben ging, wäre es noch nicht zu spät gewesen. Er hätte sie mit nach oben genommen, wenn sie ihn nur genug darum gebeten hätte, da war sie sich sicher. Wohin war er wirklich gegangen? Nicht nach draußen, nicht nach Afrika. Das war nur Tarnung.
    Was er auch zu tun hatte, jetzt war er weg. Sie war allein. So allein, wie es jemand nur sein konnte, der hier unten lebte, so allein wie immer.
    Statt ihren Dienst anzutreten, nahm sie allein einen Transporter, mit dem sie so weit nach Osten fahren konnte, wie es ging. Das Wort ,desertieren’ kam ihr nie in den Sinn. Sie ging nach oben, weil Menschen nur dorthin gehörten. Wenn sie aber erst einmal die Oberfläche erreicht hatte, dann war das nur ein Anfang, und sie konnte nicht einmal wissen, ob sie es bis dahin schaffte.
    Der Transporter raste durch die Finsternis und trug sie ins Ungewisse.
     
     
    Wir erreichten die Oberfläche im Elsaß, nur ungefähr zwei Dutzend Kilometer von der untersten Grenze des Landes entfernt. Die Gegend war wild, und in weiter Entfernung konnten wir Berge erkennen, die so hoch waren, daß sich ihre Gipfel in Schnee und Wolken verloren.
    Ich hatte schon daran zu zweifeln begonnen, ob wir je an die Oberfläche kommen würden. Einmal hielt der Wagen mitten auf der Strecke an, Kilometer vom nächsten Fahrstuhlschacht entfernt, und ich dachte schon, daß dies das Ende unserer Reise sei. Geschichten über Deserteure fielen mir ein, die in den äußersten Tunnels wohnten, und ich konnte mir vorstellen, daß der Wagen überfallen werden könnte. Wer aber wollte in einem Tunnel leben wollen, wenn er es nicht mußte? Wenn man schon weglief, dann konnte man auch gleich an der Oberfläche wohnen. Was war aber mit all denen, die nicht desertiert waren – war es möglich, daß sie lieber unten wohnten? Darüber hatte ich noch nie nachgedacht.
    In den alten Zeiten waren die Schirme, die an der Grenze nach Draußen lagen, am genauesten von allen beobachtet worden. Aber sie waren nach und nach immer weiter nach innen gezogen worden, da die äußeren Tunnels langsam verfielen, weil sie nicht mehr gebraucht wurden und es nicht mehr genug Beobachter gab, um alle Schirme zu besetzen. Hieß das, daß das Draußen näher gerückt und Europa noch kleiner als früher war? Waren wir im Draußen, wenn wir den letzten Schirm und den letzten benutzbaren Aufzug passiert hatten? Das war möglich, selbst wenn da noch einige wenige Menschen wohnten – denn wie sollten sie davon wissen?
    Zwischen den bewohnten und unbewohnbaren Gebieten gab es keine feste Grenze. Die Erde wurde nicht plötzlich kahl, unfruchtbar, verschmutzt, radioaktiv, ausgelaugt. Es gab eine recht breite Pufferzone – wahrscheinlich der größte Teil der Strecke bis Afrika, aber das wußte ich nicht – , und es war mehr

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