ZEITLOS - Band 2 (German Edition)
Schleswig ging. Man sagte ihm, er könne sein Ziel nicht verfehlen, denn es sei die kleine Siedlung Grasholz, die bei der Freikirche Maranatha lag.
Diese Kirche war ein ziemlich großflächiger Bau neuen Stils, der an der Endstation des Stadtbusses lag. Das Haus der Stettners war ein ganz normales, eher unauffälliges Einfamilienhaus, umgeben von anderen Häusern ähnlichen Stils. Gärten mit Gemüsebeeten prägten das Bild.
Er radelte durch das Viertel, in dem viele Kinder spielten und laute Fröhlichkeit herrschte, um sich ein wenig umzuhören. In der Siedlung selbst scheute er sich, jemanden nach den Stettners zu befragen – zu auffällig! Deshalb war sein erster Anlaufpunkt die Lebensmittelverteilungsstelle im Rosseer Weg, nicht einmal einen Kilometer entfernt. Dort gab er sich als alter Bekannter von Frau Stettner aus, die er mit seinem Besuch überraschen wollte. Sie hätten sich seit Schultagen angeblich nicht mehr gesehen und nun sei er auf der Suche nach ihr.
Er erfuhr, dass sie augenblicklich nicht hier im Viertel, sondern noch immer bei den Eltern in Borby wohnten, wo sie seit dem harten Winter untergekommen waren. Man nannte ihm die Adresse und nun war der Weg für ihn frei, bei den unmittelbaren Nachbarn unauffällig weitere Recherchen anzustellen.
Glücklicherweise fand er eine auskunftsfreudige Nachbarin - genau die Sorte, die man als Journalist brauchte. Sofort lief er zur Höchstform auf, als sie ihm erklärte, dass die bei den Eltern untergekommen waren. Diesem die entnahm er intuitiv, dass die Nachbarin gern ein wenig über die plaudern würde.
***
Als er drei Stunden später das Haus der Lemmings verließ, schwirrte ihm der Kopf. Er hatte soeben einen journalistischen Volltreffer gelandet. Seine Taktik war exzellent gewesen. Er spürte sofort, dass diese Frau den Stettners gegenüber feindselig eingestellt war und hatte deshalb auf die Masche: Bundesbehörde BKA ermittelt verdeckt, geschaltet.
Dieser Hinweis ließ die Wangen der Frau sofort hellrot vor begeisterter Mitteilungsfähigkeit glühen. Alles, was sie ihm sagte und natürlich auch sein Besuch bei ihr, musste selbstverständlich streng geheim bleiben. Für derartige Zwecke hatte er eine ganze Reihe täuschend echt aussehender Dienstausweise bei sich, das gehörte schließlich zum Einmaleins eines guten Aufdeckungsjournalisten.
Nun wusste er, dass es eine Freundesgruppe gab, die sich in unregelmäßigen Abständen im Haus der Stettners traf und nicht selten sogar einige Nächte dort verbrachte. Er erinnerte sich hinterher nicht, was ihn zu der entscheidenden Frage veranlasst hatte, aber als er sie stellte, legte die redselige Dame ihre Stirn in Falten und berichtete von der Nacht des Ereignisses: Sie hatte nicht schlafen können, der Blutdruck, müsse er wissen , und da habe sie gegen Mitternacht ein seltsam rosafarbenes Leuchten, ähnlich einem Polarlicht, über dem Dach des Nachbarhauses gesehen. Ihr Mann hatte ihre Beobachtung nicht ernst genommen, aber sie wisse, was sie gesehen habe. Und in dieser Nacht war auch der Freundeskreis zu Besuch gewesen. Sie erinnere sich deshalb so genau daran, weil an dem Tag dieser unverschämte Großbäcker aus Neumünster mit seinem Firmenwagen wieder einmal frech ihre Einfahrt zugeparkt hatte und, statt sich zu entschuldigen, auch noch dreiste Bemerkungen abgelassen hatte. Aufgeblasener Kerl, der! Das Fahrzeug hatten sie später beiseite geschoben, es stünde noch am Straßenrand.
Plätschner machte sich Notizen, das wirkte immer offiziell und wichtig. So kannte das diese Frau Lemming sicherlich auch vom Fernsehen, als es das noch gab. Da machten es die Kommissare in den Krimis auch so. Er grinste in sich hinein. Nun hatte er eine weitere Person genannt bekommen, deren Namen er in der Stadt schon häufig gehört hatte: Kerstin Jankowski, Pastorin an der Borbyer Kirche. Sie hatte mittlerweile fast den Ruf einer Heiligen. Man marschierte in Scharen in ihre Gottesdienste. Sie gehörte auch zu der besagten Freundesgruppe der Stettners. Am besten würde es sein, er besuchte eine ihrer für Sonntag angesetzten Gospelandachten, um sich ein eigenes Bild von ihr zu machen.
***
Danach war für ihn nichts mehr so, wie es zuvor gewesen war. Etwas derart Wahnsinniges hatte er in seinem ganzen Leben, und das ging immerhin schon über neunundvierzig Jahre, noch nie erlebt: Er war während dieses Gospelgottesdienstes in völlige Auflösung geraten. Einen Mann hatte es anscheinend sogar
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