ZEITLOS - Band 2 (German Edition)
Forschertreffen in die Schlagzeilen der Fachpresse. Diese Treffen besuchte er regelmäßig und erwarb sich dadurch einen guten Namen auf diesem Spezialgebiet.
An dem Abend, als er das Buch mitgehen ließ, war sein Blick auf dieses merkwürdige Blatt Papier an Neles Pinnwand gefallen, das ein handschriftliches Schaubild mit wissenschaftlichen Begriffen zeigte. Sie hatten nicht darüber gesprochen, dennoch merkte er sich alle Einzelheiten genau. Beobachtungsgabe war in seinem Job das A und O.
Als nächstes würde er sich das private Umfeld des Professors vornehmen. Dessen Privatadresse hatte er geschickt aus Nele herausgefragt, nun wusste er, wo er zu suchen hatte: Die Familie wohnte in einem Einfamilienhaus am nördlichen Eckernförder Stadtrand.
Doch die Ausführung dieses Planes wurde unterbrochen. Der Versuch der Regierung, wieder ein Währungssystem zu etablieren, begann mit der überraschenden Geldverteilungs-Aktion und hatte bei der Berichterstattung zunächst Vorrang. Die Ereignisse im Mai überschlugen sich, zwar wurde der Real in Kiel verteilt und es gab zaghafte Versuche mit der neuen Währung zu bezahlen, doch es bildete sich heftiger Widerstand, bis hin zur Totalverweigerung einiger Bevölkerungsgruppen. Es wurde ziemlich chaotisch, und nach wenigen Wochen wurde klar, dass die Aktion aus dem Ruder lief.
Die neue Währung polarisierte die Stadtbevölkerung. Die Gruppe der Verweigerer erhielt immer mehr Zulauf und die in den Vierteln eingesetzten Komitees unterstützten den Widerstand. Obwohl es den Leuten alles andere als gut ging, fanden sie doch auch Tröstliches in diesen Zeiten der Solidarität und der praktizierten Nächstenliebe. Die Widerständler argumentierten damit, dass das neue Geld die Besitzgier und Selbstsucht der Menschen erneut entfachen würde, mit allen hinlänglich bekannten Auswirkungen.
Plätschner sympathisierte mit den Widerständlern. In den wöchentlichen Redaktionssitzungen war Denis von der Wirtschaft sein Widerpart. Leidenschaftlich droschen sie verbal aufeinander ein und auch im gesamten Zeitungsbetrieb herrschte ein tiefer Graben zwischen den beiden Lagern. Am denkwürdigen Montag, dem 10. Juni, zogen große Teile der Geldverteilertruppen ab, die verbleibenden Uniformierten versuchten umso verbissener, das Geld unter die Leute zu bringen.
Aus Eckernförde hörte man sogar, dass die gesamte Bevölkerung das Geld ablehnte und die Truppen dort vollständig und gesammelt wieder abzogen waren. Dieser Umstand erinnerte Plätschner an sein eigentliches Thema. Jetzt wurde es wirklich Zeit, seine Recherchen dort vor Ort weiter zu führen und endlich auch das Umfeld des Professors unter die Lupe zu nehmen. Sein Instinkt sagte ihm, dass das Epizentrum der Geschehnisse nicht in Kiel sondern in Eckernförde lag.
***
Er ließ die Stimmung des Städtchens auf sich wirken. Die Menschen schienen zuversichtlicher als die Kieler zu sein – als würden sie von der inneren Gewissheit zehren, dass die neuen Zeiten glücklicher als die vergangenen werden würden. Schließlich fand er das Schlüsselwort, das den Unterschied besonders gut beschrieb, es hieß einfach: Optimismus.
Plätschner erinnerte sich seiner Jugendjahre: In den Siebzigern hatte es auch diesen Optimismus und diese Aufbruchstimmung gegeben. Man ging damals wie selbstverständlich davon aus, dass die Verhältnisse von Jahr zu Jahr besser werden würden – mehr Urlaub, mehr Geld, mehr Freiheit, mehr Arbeitnehmerrechte. Zwar schwebte über allem die Fratze des Kalten Krieges, aber der schien in den Köpfen nicht das bestimmende Element zu sein.
Erst in den achtziger Jahren folgte die Katerstimmung, die dann in den Neunzigern für einige Jahre vom Mauerfall und dem Zerfall der UDSSR unterbrochen wurde.
Die gelassene, fast heitere Stimmung des Städtchens, rührte an diesen Erinnerungen, und noch etwas fiel ihm auf: Das hell tönende Läuten der Kirche, die auf der anderen Hafenseite hoch über der Stadt thronte. Beim Spazierengehen am Hafen, wo er den regen Handel mit frischem Kutterfisch beobachtete, fiel ihm der permanente Strom an Menschen auf, der über die Hafenbrücke zu diesem Gotteshaus mit dem schlanken Turm strebte. Eine derartige Religiosität war in dieser starken Ausprägung in Kiel nicht zu beobachten.
Nachdenklich nahm er sich nun vor, die Wohnsiedlung des Professors in Augenschein zu nehmen. Der Weg führte zum Stadtrand unweit des Windebyer Noores, wo die Bundesstraße 76 in Richtung
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