ZEITLOS - Band 2 (German Edition)
umgebracht, er hatte die überwältigende Wirkung dieser zu Herzen gehenden Andacht wohl nicht ausgehalten und wahrscheinlich einen Herzinfarkt bekommen. Man hatte ihn rausgetragen. Später hieß es, er sei verstorben.
Der Chor mit seinem wahrhaft engelsgleichen Gesang, die Predigt, die Segnung der Gemeinde…, das Ganze hatte ihn so sehr in den Bann gezogen und aufgewühlt, dass er hinterher beinahe an eine Erleuchtungserfahrung glaubte. So musste sich Erleuchtung, wenn es sie denn gab, jedenfalls anfühlen. Rotz und Wasser hatte er geheult, hatte stehend geklatscht und den Chor angefeuert, hatte mitgesungen und geschwungen, sich eins mit der Gemeinde um ihn herum gefühlt. Die Pastorin, in ihrem weißen Talar, erschien ihm wie der Erzengel persönlich. Von ihr ging eine wundersame Kraft der Liebe aus, die er in dieser Intensität nicht einmal bei Ilka gespürt hatte – überirdisch.
Danach schmeckte ihm nicht einmal mehr der Wodka. Seit Ilka ihn verlassen musste, hatte sich sein Herz nicht mehr in so liebevollem Aufruhr befunden - als wäre aus Stein wieder Fleisch geworden. Warmes, lebendiges, pulsierendes Fleisch. Er brauchte volle zwei Tage, um sich von diesem Erlebnis zu erholen, dann meldete sich allmählich sein journalistischer Verstand wieder zu Wort. Das, was er hier in dieser Kirche erlebt hatte, erinnerte ihn an etwas. Bloß woran nur?
Er zerbrach sich darüber den Kopf, aber es fiel ihm nicht ein.
29.06.2013; Samstag; 09:30 Uhr/MEZ; Eckernförde-Grasholz; Privathaus
»Was ist denn heute mit der Lemming los? Sowas von herumgeschleimt« Kopfschüttelnd ging Markus voran und schloss die Tür zum Haus auf. »Es muss sie wohl geschmerzt haben, uns so lange nicht gesehen zu haben, hatte wohl nichts zum Tratschen?«
»Vielleicht ist sie ja auch einfach nur milder und netter geworden. Gib ihr eine Chance, Markus!«
Birte fand auch immer eine Entschuldigung für die Fehler anderer. Kerstin und Edelgard drängelten von hinten. »Nun mal los da vorne! Wir wollen hier keine Wurzeln schlagen« Sie kicherten und waren voller Tatendrang. Die Freunde hatten sich zusammengefunden, um sich in gemeinsamer Arbeit um den Garten zu kümmern und nach dem Rechten zu sehen, aber auch Spaß und gesellige Gemütlichkeit würden nicht zu kurz kommen. Für Markus fühlten sich die Mitglieder von Neue Hoffnung Erde mittlerweile wie seine erweiterte Familie an.
Gut, dass auch Simon wieder wohlbehalten bei ihnen war. Er hatte sich aus dem Kellerverlies befreien können und war bei guter körperlicher Gesundheit, nur leider nicht mental. Das brutale Verhör war nicht spurlos an ihm vorüber gegangen, seine Gesichtsflecken und sein unruhiger Blick sprachen eine deutliche Sprache.
Birte ging erst einmal rüber zu Eli und Hartmut Wilkens, Guten Tag sagen. Die hatten Elis Eltern aus Schleswig und ihre jüngere Schwester bei sich aufgenommen. Das Bild der Siedlung hatte sich seit dem Ereignis verändert. Manche Häuser standen unbewohnt, weil man sich mit anderen Familienmitgliedern zusammengetan hatte oder wegen günstigerer Lebensbedingungen woanders untergekommen war. So, wie sie selbst jetzt bei seinen Schwiegereltern in Borby lebten. Es machte einfach Sinn, während dieser Zeiten zusammenzurücken , um sich gegenseitig zu helfen und zu unterstützen. Außerdem waren die Lebenserfahrung und das Wissen der Älteren gefragter denn je. Auch in den Gärten der zurzeit unbewohnten Häuser waren die einstigen Blumenrabatten in Gemüsebeete verwandelt worden, die von den Nachbarn im Einverständnis mit den Eigentümern bebaut wurden. Im Gegenzug dafür hielten sie ein Auge auf die Unversehrtheit des Hauses.
Sie verstauten die mitgebrachten Vorräte aus ihren Rucksäcken und Fahrradtaschen, danach bearbeiten die Männer die Gemüsebeete. Die Frauen klarten das Haus auf. Svenja, Myrja und Kim waren in Borby geblieben. Markus besah die Beete und fühlte aufkeimenden Stolz. Wie gut, dass sie auf die Ratschläge von Brigitte und Werner Nicolai gehört hatten. In diesem Sommer würden sie die erste Ernte auf eigenem Grundstück einbringen.
Dieses Jahr war die Natur gute drei Wochen zu spät dran. Der lange Winter war erst Ende April dem Frühling gewichen. Die Erdbeeren standen jetzt prächtig und mussten gepflückt werden, die Kartoffeln schossen ins Kraut, die Erbsen mussten angehäufelt und der Blumenkohl gepflanzt werden. Markus sah nach dem Weißkohl, dessen Blätter sich langsam zu schließen
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