ZEITLOS - Band 2 (German Edition)
wieder in Berührung mit längst vergessen geglaubten Emotionen und Instinkten kam.
Jeder schien zu begreifen, dass man diese Ausnahmesituation nach dem Ereignis nur durchstehen und meistern konnte, wenn man freundlich und hilfsbereit miteinander umging – sein Wissen, sein Hab und Gut und seine Tatkraft mit den anderen der Gemeinschaft teilte.
Die Menschen begannen, sich ihrer Wurzeln aus längst vergangenen Zeitaltern zu erinnern.
***
Kerstin brach am Morgen des übernächsten Tages zu Fuß auf, um zu ihrer, nur knapp drei Kilometer entfernten, Borbyer Gemeinde zu gelangen. Sie ahnte wohl, dass die Gemeindemitglieder ihrer ganzen Stärke und geistlichen Fürsorge bedurften, und dass sie mit ihrer neu gewonnen Kraft jetzt vielleicht dazu beitragen konnte, auch ihnen Halt und neue Zuversicht zu geben – einer Gemeinde, die plötzlich so bunt und vielzählig geworden war, dass sie kaum glauben konnte, was sie sah. Menschenmassen umlagerten ihre Kirche und brachen in lauten Jubel aus, als sie ihre Pastorin begrüßen konnten.
In der Folgezeit wurde es notwendig, jeden Tag mehrere Gottesdienste abzuhalten, denn während noch die Glocken das Vater Unser am Schluss jeder Andacht begleiteten und der Umgebung damit das Evangelium verkündeten, kamen bereits neue Scharen von Menschen und warteten vor dem Kirchenportal. Es herrschte ein reges Kommen und Gehen. Die hoch über der Eckernförder Bucht gelegene Feldsteinkirche mit ihrem schlanken Turm war zu einem neuen Symbol der Hoffnung und der Zuversicht geworden.
Die Menschen lauschten den Worten ihrer neu erstarkten Pastorin, die das Gefühl hatte, als ob tief aus ihrem Inneren plötzlich Weisheiten hervortraten, die es nicht mehr erforderlich machten, Predigttexte zu entwerfen und aufzuschreiben, wie sie das noch in den Zeiten vor dem Umbruch praktiziert hatte. Sie schien einfach zu wissen, welche Worte ihre Gemeinde jetzt brauchte.
Die Menschen besuchten ihre Kirche in der Hoffnung, dort Trost und eine neue Nähe zu ihrem Gott zu finden, der ihnen nun viel näher und selbstverständlicher zu sein schien.
***
Nachdem Kerstin aufgebrochen war, fand auch Lars keine Ruhe mehr – er musste zu seinem Betrieb und zu seinen Leuten. Irgendwie musste es ja weitergehen. Er fuhr mit einem der Stettner’schen Familien-Fahrräder los.
Edelgard sah zunächst keine Möglichkeit, mit ihrer Tochter nach Schleswig zurück zu kehren und blieb vorerst bei Stettners.
Markus und Simon kamen zu dem Schluss, dass es für sie noch keinen Sinn machte, ohne Stromversorgung ihren Arbeitsplatz an der Uni aufzusuchen. Stattdessen diskutierten sie die Möglichkeit, kurzfristig die Versorgung mit Elektrizität in ihrer unmittelbaren Umgebung wieder herzustellen. Sie trugen diese Idee in den neu entstandenen Nachbarschaftsrat des Viertels, der sich täglich um die frühe Nachmittagsstunde zur Beratung zusammenfand. Daraufhin wurde nachgedacht, ein fünfhundert Meter entfernt stehendes, schon ein wenig in die Jahre gekommenes Windkraftwerk anzuzapfen. Es wurde ein Ausschuss gebildet, der sich der Machbarkeit dieser Frage widmen sollte.
Dabei zeigte sich, dass im Viertel mehrere Mitarbeiter eines Industrieunternehmens wohnten, die sich mit Starkstromanlagen auskannten. Die Bemühungen, dieses Vorhaben zu realisieren, dauerte zehn Tage, dann war es soweit: Die Flügel des ersten Windrades begannen sich am 14. Juni wieder zu drehen. Überall in der Umgebung folgten weitere Windräder, mussten allerdings von Hand bedient und mit ständigen Wachen besetzt werden. Auch bei den Umspannwerken gelang es, nach anfänglichen Schwierigkeiten, auf händischen Betrieb umzustellen. Allerdings war dadurch natürlich zunächst nur eine behelfsmäßige Versorgung mit Elektrizität möglich, keineswegs so verlässlich, wie man es von der Zeit vor dem Ereignis, wie man den Tag des Umbruchs jetzt umschrieb, kannte.
Mittlerweile hatten die Menschen die Hoffnung auf Hilfe von außerhalb aufgegeben. Ihnen dämmerte, dass etwas Großes geschehen sein musste, und sie brachten das fast zwei Jahre zuvor aufgetretene Phänomen des Kosmischen Rauschen s damit in Verbindung. Seinerzeit hatte man sich nach anfänglichem Umgewöhnen auf die Lage eingestellt, und es passiv hingenommen. Doch diesmal versanken die Menschen nicht in Passivität, sondern stellten sich der Herausforderung und beteiligten sich freudig und voller Tatendrang an den erforderlichen Arbeiten, die die
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