ZEITLOS - Band 3 (German Edition)
würde sie mit jemandem reden können, dem ihre Fähigkeit vertraut war. Im Dorf angekommen, zählte sie die Hausnummern der Dorfstraße ab. Ausgerechnet bei der Ziffer, die unmittelbar vor der angegebenen Nummer lag, endete das Dorf, begann wieder die Landstraße.
Irritiert stieg sie vom Rad und sah sich um. Zum Glück kam ihr ein mit Silageballen beladenes Traktorgespann entgegen. Auf ihr Winken hin hielt der Fahrer an und stellte den lauten Motor ab. Der gutmütig dreinblickende Bauer fragte mit stark eingefärbtem Dialekt: »Na, Mädchen, kann ich dir helfen?«
Sie nickte. »Ich suche die Hausnummer zweiundzwanzig, Frau Witt.« Der Bauer nahm nachdenklich die Schirmmütze hoch und kratzte sich die Stirn, dann ging ein Leuchten durch sein runzliges Gesicht. »Ah, du willst bestimmt zur Irmi, unserer Wunderheilerin? Du kannst mit deinem Rad die Abkürzung nehmen. Fahre den Weg dort entlang…«, er wies mit der Mütze auf eine Wegeinmündung, ungefähr hundert Meter weiter, »… dann bist du in fünf Minuten dort. Bestelle der Irmi einen schönen Gruß von mir, vom Friedel, dann weiß sie Bescheid.« Er winkte ihr freundlich zu und knatterte mit seinem Gespann davon.
Myrja bog in den beschriebenen Forstweg ein. Auf beiden Seiten säumten hohe Kiefern den Weg. Nebel behinderte den Blick. Es war Ende Oktober und bereits empfindlich kühl. Sie erreichte den Rand des Tannenwaldes und fuhr in eine lang gezogene Senke, in der es noch nebliger war.
Als der Weg sie wieder ein wenig nach oben führte, sah sie den Holzwegweiser mit der Nummer: 22 - Hof Marschenland . Sie war am Ziel. Aus dem Nebel schälte sich der Umriss eines mächtigen Fachwerkhauses mit angeschlossenem Stall. Ein Hofhund kam ihr steifbeinig entgegen, verbellte sie, aber nur kurz. Nachdem er die Besucherin ausgiebig beschnüffelt hatte, ließ er sich von ihr sogar die Ohren kraulen und drückte sich, gar nicht mehr argwöhnisch, an ihr Bein. Die letzten Meter schob Myrja das Rad, und der Hund trottete entspannt neben ihr her.
Im Hauseingang erschien eine sehr große, hagere Frau. Die Arme vor der Brust verschränkt, stand sie dort und sah ihrer angekündigten Besucherin abschätzend entgegen. Diese abwartende Haltung gab sie schon nach wenigen Sekunden auf, da sie sah, dass Benno, der alte Münsterländerrüde, den Gast akzeptiert hatte. Auf Benno war Verlass, wer seinen Argwohn überwand, war hier gern gesehen.
»Du musst Myrja sein, hab ich recht?« Myrja nickte und versuchte, ihre Beklemmung gegenüber der etwas streng und zurückhaltend wirkenden Frau zu überwinden. »Ja, die bin ich, und ich hoffe ich störe Sie nicht?«
»Ich habe dich erwartet. Deine Chefin hat mir von dir berichtet und mich gebeten, mich deiner anzunehmen. So, nun nimm deine Tasche, und komm erst mal rein ins Haus!«, und an den Hund gerichtet: »Benno, geh in deinen Korb!«
Die Frau bat sie mit einer Geste ins Haus, reichte ihr jedoch nicht die Hand. Der Rüde schritt würdevoll durch den Flur voran in die davon abzweigende Stube. Hier war alles dämmrig, kein Licht brannte. Der neblige, ohnehin trübe Herbsttag besaß nicht genug Kraft, um durch die kleinen Fenster die Dunkelheit aus der Stube zu vertreiben. »Bleib stehen!« Myrja stockte und blieb in der Mitte des Raumes stehen. Frau Witt stellte sich ihr gegenüber und blickte mit halb geschlossenen Augen auf sie herab - vom Scheitel bis zu den Fußspitzen. Dabei umrundete sie Myrja langsam und unterzog sie von allen Seiten einer genauen Prüfung. »Hm, atme ganz tief und gleichmäßig, entspanne deinen Geist und mache ihn ganz weit. Denke an nichts!« Nun fuhr die Frau mit den Händen mit einer Handbreit Abstand über ihren Körper, ebenfalls von allen Seiten. Myrja wusste, dass die Frau ihre Aura auslas.
Es war das erste Mal, dass sie eine Person traf, die so selbstverständlich mit dem Phänomen des Aura-Lesens umging wie Frau Witt. Myrja vertiefte ihre Kontemplation, ließ das feinstoffliche Energiefeld ihrer eigenen Aura kräftig auflodern. Erschreckt - oder beeindruckt? - wich die Alte auf der Stelle zurück. »Meine Güte, Mädchen! Was hast du für eine starke Energetik. In dieser Stärke und dazu unter der vollen Kontrolle des Willens habe ich so etwas noch nie bei jemandem gesehen. Setz dich, und erzähl mir ein wenig von dir!«
Myrja blieb eine Woche, wie ihre Chefin und Frau Witt das vereinbart hatten. An die etwas spröde wirkende Art der Frau
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