ZEITLOS - Band 3 (German Edition)
gewöhnte Myrja sich schnell. Deren Wissen und Menschenkenntnis beeindruckten sie tief. Sie hatte erfahren, dass Frau Witt für allerlei wundersame Heilungen verantwortlich gemacht wurde. Jeden Tag kamen Menschen, die sich von ihr eine Linderung von körperlichen oder seelischen Beschwerden erhofften.
Myrja durfte bei allen Behandlungen mit dem Einverständnis der Patienten dabei sein und machte erstaunliche Erfahrungen. In dieser Woche gab es unter den Patienten einen, bei dem Myrja durch das Auslesen der Aura zu anderen Schlüssen gekommen war als Frau Witt. Sie behielt dieses Wissen aber solange für sich, bis sie von dieser nach der Behandlung um ihre Meinung gebeten wurde.
Die Alte hörte sich ihre Beurteilung an. Sie war keineswegs beleidigt, dass Myrja zu einem anderen Urteil als sie selbst gelangt war. Als Reaktion bestellte sie den jungen Mann schon am nächsten Tag wieder ein und wies Myrja an, dessen Aura durch energetische Beeinflussung zu harmonisieren.
Myrja fühlte sich zunächst ein wenig befangen, denn sie hatte noch nie einen Patienten behandelt. Die Alte saß mit halb geschlossenen Augen in der Ecke und beobachtete ihr Tun. Der junge Mann, der nun vor ihr auf der Behandlungsliege lag, litt an epileptischen Anfällen, die in letzter Zeit schlimmer geworden waren.
Myrja stand neben der Liege und begann zögernd mit ihren Händen in einigen Zentimetern Abstand über die Körperoberfläche des Patienten zu streichen. Sie konzentrierte sich dabei auf die Mitte zwischen ihren Augenbrauen, stellte sich einen Energiekreislauf vor, dessen gegenüberliegende Scheitelpunkte zwischen ihrer Stirn und ihren Händen lagen. So konnte sie die Aura nicht nur besser erspüren, sondern mit ihren energetischen Kräften die flackernden Lichtemissionen des Körpers stabilisieren und glätten.
Besonders im Scheitelbereich verblieben aber dennoch heftige Energiewirbel, die sie deutlich wahrnahm. Sie fühlten sich an wie wilde Eruptionen, die sich nicht unter ihren Händen beruhigen ließen. Sie begab sich in ein Gefühl tiefer Dankbarkeit und Liebe. Da tauchte in ihrer Vorstellung urplötzlich eine Idee auf: Sinta!
Sie musste sich auf die Energiemuster des sintafarbenen Lichts einstellen! Sie ließ diese Vorstellung in ihre Fingerkuppen und Handflächen strömen. Die Energie folgte unmittelbar auf dieses gedankliche Bild und strömte stärker werdend kreisförmig vom Herzen in den linken Arm, von dort zur anderen Handfläche, den rechten Arm herauf - ein heftig rotierender Energiekreis war das Ergebnis. Plötzlich wusste sie, dass sie die Energie falsch handhabte. Für eine dauerhafte Heilung war eine andere Vorstellung erforderlich: Die Energie musste vom Herzen in die linke Hand und gleichzeitig vom Stirnchakra in die rechte Hand geleitet werden, sie musste die Hände über je eine Hirnhemisphäre des Jungen halten, außerdem fehlte eine Besprechungsformel, an die sie sich augenblicklich erinnerte:
Sei gesammelt im Hier, sei gelöst im Dort, sei die Liebe und die Kraft, die dich heilt! Es fiel ihr schwer und kostete sie unglaublich viel Kraft, sich auf die hufeisenförmig in beide Arme strömende Sinta-Energie einzustellen und gleichzeitig im Geist diese Formel zu rezitieren. Erstaunt vernahm sie, dass sie die Formel gar nicht geistig vor sich her sagte, sondern vielmehr im sanften Rhythmus eines Wiegenliedes sang - unaufhörlich, immer wieder aufs Neue.
Unter ihren Händen schwächten sich die Energiewirbel des Patienten ab, glätteten sich und liefen aus wie sanfte Meereswellen an einem flachen Strand. Alles war gut, sehr gut sogar . Mit einem tiefen Seufzer beendete sie das Behandlungsritual. Sie war schweißgebadet.
Der junge Mann war unter ihren Händen eingeschlafen, er atmete ruhig und tief. Sie spürte die Hände von Frau Witt sacht auf ihren Schultern. Ohne ein Wort zu sagen, schob sie Myrja in den Sessel, auf dem sie selbst die ganze Zeit über beobachtend gesessen hatte. Sie drückte das völlig erschöpfte Mädchen sanft in die Polster, legte dessen Füße auf einen Hocker und zog ihr, beinahe zärtlich, die Schuhe aus.
Niemand wusste besser als sie, welch unglaubliche Energiearbeit ihre Schülerin gerade geleistet hatte.
04. Dezember 2025; Donnerstag; 14:00 Uhr/ ehemalige MEZ; 5. Welt; Kiel; Universitätsgelände
Stettner strebte dem Gebäudeblock zu, in dem auf dem Kieler Campus die Chemie beheimatet war. Er hatte es eilig, denn
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