ZEITLOS - Band 3 (German Edition)

Er hatte lange gebraucht, bis er begriff, dass Brayasil das wirklich ernst meinte. In gewisser Weise stimmte es natürlich, denn hatte nicht er, Jens Plätschner, durch das Überbringen des einzigen noch fehlenden Kristallschädels Corona de Luz in letzter Minute dafür gesorgt, dass mindestens der Hälfte der Weltbevölkerung die Transformation gelungen war?
       Im Laufe seiner bisherigen Ausbildung hatte er zudem von seinen unerhörten Kräften erfahren, die ihm automatisch einen besonderen Rang unter den schamanisch Tätigen einnehmen ließ. Nun gut, daran waren natürlich auch die Tränke und Elixiere schuld, die er bei vielen Zeremonien einnehmen musste, um in die höheren Bewusstseinszustände zu gelangen.
       In der letzten Nacht hatte er sich während der Zeremonie zu Ehren des wieder neu erwachenden Schöpfergottes Viracocha im Innern der Erde, unterhalb des erst 1950 in der Kirche Santo Domingo nach einem Erdbeben wiederentdeckten Sonnenheiligtums Coricancha gesehen.
       Während der Visionen hatte er sich barfuß, mit einer schweren Bürde auf dem Rücken, den Weisungen des Hohen Priesters Villaq Umu folgend, im unversehrten Heiligtum befunden und dann sogar den ursprünglichen Sonnentempel wieder in seiner ganzen Pracht und Schönheit von außen gesehen.
       Dann waren sie in das unterirdische Labyrinth aus Gängen und Kammern hinab gestiegen, in die man nur im höheren Bewusstseinszustand gelangen konnte. Dabei leistete Yaje unersetzliche Dienste. Dieser Ayahuasca-Trunk hieß aus der Indianersprache Quechua übersetzt: Ranke der Seelen . Er war zugleich Droge und mächtige Geisteskraft, dessen Gewogenheit es zu erlangen galt, sonst war man in der Geisterwelt verloren.
       Er erinnerte sich noch sehr genau an den braunen, süßlichen Sud, der aus Caapi-Lianen und dem Chacruna-Strauch hergestellt und dann drei Tage lang eingeköchelt wurde, um daraus den wirkungsstarken, halluzinogenen Extrakt zu gewinnen.
       Yaje hatte es wahrhaftig in sich! An dieser Ranke hatten sie in das Labyrinth hinabsteigen können, wo Plätschner wieder einmal Ilkas Seelen-Gegenwart ganz nah bei sich und um sich herum spürte.
       Das Labyrinth befand sich innerhalb eines geheimnisvollen Wirkungsfeldes, das von einem im Sonnentempel verwahrten zwanzigeckigen Stein hervorgerufen wurde. Es hieß, wer Herrschaft über diesen Stein besaß, dem sei die Welt untertan. Womit unter Herrschaft weniger der materielle Besitz gemeint war als vielmehr die Steuerung seiner ihm innewohnenden Kräfte. Wie immer das gehen mochte.
       Plätschner kicherte, noch immer war Yaje nicht vollständig raus aus seinem Blut. Ein umwerfendes Zeug – aber gut! Er überlegte, ob er den Elderman, dessen spiritueller Führung er sich hier anvertraut hatte, nicht um das Rezept bitten sollte. Es konnte schließlich nicht schaden, wenn er wusste, wie man diese Tränke herstellte und verwendete. Bisher hatte er sich dafür wenig interessiert, denn für ihn war vor allem die Wirkung und Anwendung von Interesse gewesen. Nun beschloss er, sich fortan auch dem Studium der halluzinogenen Drogen zu widmen. Er war sich sicher: Yaje meinte es gut mit ihm.
       Elderman Viçonza, der neben ihm saß, stieß ihn an und machte ihn auf die Sonnenscheibe aufmerksam, die nun in einer Prozession durch das Rund der provisorisch gebildeten Arena herumgetragen und zur Schau gestellt wurde. >Das ist Inti. Diese Sonnenscheibe mit dem Gesicht, den Sonnenstrahlen und den Feuerzungen symbolisiert den Sohn der Sonne.
       Die Sonnenscheibe steht sonst im Heiligtum und wird von zwei seitlich dazu angeordneten goldenen Löwen bewacht. Es heißt, dass Inti, der Sohn der Sonne, als Itomi Pavá wiederkehren und die vollkommene Weisheit der Kristallschädel an uns Menschen weitergeben wird.<
       Plätschner brauchte eine kleine Weile, um diese Information zu verarbeiten. War es das, was Brayasil mit seiner Andeutung gemeint hatte? Es durchlief ihn eiskalt. Itomi Pavá! Hey! Ja, wiederkehrender Sohn der Sonne. Das passte schon irgendwie, denn schließlich hatte er die Stimme Coratschas hören können, mit der der Kristallschädel zu ihm gesprochen hatte.
       Plötzlich entstand in Plätschner der starke Wunsch, in die Nähe der Schädel zurückzukehren. Er würde sich schon bald aufmachen, um das Ojo santo, tief im Innern der Erde aufzusuchen. Warum war er nicht schon früher auf diese Idee gekommen?
       Elderman Viçonza erwies sich als wahrer Segen und Schatztruhe für