Zeitlos
körperliche Herausforderung ein. Und doch war es jedes Mal wieder überwältigend – Die Seilbrücke konnte aus Sicherheitsgründen nur einzeln betreten werden, und derjenige, der den gegenüberliegenden Rand der Schlucht erreichte und somit die Brücke für den Nachfolgenden freigab, ließ ein Schnalzen ertönen, dessen scharfes Geräusch sich mit schauderhaftem Echo verbreitete, so, als würden zehn Leute das Geräusch verursachen.
Danach kam der nächste an die Reihe, musste versuchen, sein Gewicht auf der schwankenden Brücke, die links und rechts mit nur einem Handseil gesichert war, auszubalancieren und gleichzeitig mit den Füßen tastend, sicheren Tritt zu bewahren. Eine Übung, die wie die Mythen lehrten, das Vertrauen schärfen sollte.
Als alle die Brücke passiert hatten, ging es noch ein kleines Stück über steinigen Untergrund weiter, dann entzündete der Don eine Fackel. Die Schwärze wich zurück. Geblendet durch das Licht, dauerte es eine kleine Weile, bis sich eine mittelgroße Höhle erkennen ließ, deren Wände mit Reliefs verziert waren, die lebensgroße Tiergestalten und menschliche Gesichter zeigten. Auf drei mächtigen Felsbrocken, aufgestellt in einem Dreieck prangten Fratzen, die ihnen wie Ehrfurcht gebietende Wächter erschienen. Das Flackern der Fackel verlieh den Reliefs ein geheimnisvolles Eigenleben, so, als ob sie gleich in Lebensgröße aus dem Gestein hervortreten würden.
Diese Höhle war der Vorraum zum Heiligsten, ein Ort, an dem das Chi, die vitale Lebensenergie, durch eine Limpia, gestärkt wurde. Das ist eine besonders effektive Technik zur Reinigung bzw. Entfernung von Störfaktoren und energetischen Beeinträchtigungen des Körper-Geist-Systems. Der alten Tradition zufolge wurde jeder Einzelne durch Alessia aufgerufen, sich in die Mitte des Dreiecks zu stellen, direkt auf den Kraftpunkt und eine Gebetsformel zu sprechen, die von den anderen, welche im Kreis darum herum standen, ähnlich einem Wechselgesang, erwidert wurde. Jeder Gereinigte entzündete daraufhin eine Fackel und steckte diese in eines der Löcher, die in gleichmäßigen Abständen in die Höhlenwände eingelassen waren.
Nach dieser Zeremonie war die Höhle durch die Vielzahl der entzündeten Fackeln hell erleucht. Im Hintergrund trat nun der Monumentalstein hervor. Er sah aus wie eine viereckige Minipyramide, wohl annähernd fünfzehn Meter hoch. In den Stein geschlagene Treppenstufen ermöglichten den Aufstieg zum Scheitelplateau.
Alessia führte die Prozession an. Trittsicher und durch die Limpia gestärkt, ging sie mit weiten Schritten voran. Dabei leistete ihr der kunstvoll geschnitzte Schamanenstab, der die gefiederte Schlange Quetzalcoatl darstellte, gute Dienste. Sie hielt ihn fest in ihrer rechten Hand und tastete sich behände die Stufen empor. Oben angekommen, sammelten sich alle um das in der Mitte des Plateaus ruhende Heilige Auge, dem Ojo santo – einem kreisrunden Wasserspiegel, der schwarz und glatt wie flüssiges Blei mit einem Durchmesser von gut acht Metern vor ihnen lag. Sie knieten am Rand nieder und warteten.
Alessia war die einzige, die nicht kniete, sondern auf einer kleinen Erhebung Platz nahm. Es vergingen einige Minuten, dann trat das Erwartete ein: Ein schwerer Tropfen löste sich von der nicht erkennbaren Höhlendecke über ihnen und schlug in der Mitte des Heiligen Auges auf. Ringförmig strahlten die Wellen vom Einschlagpunkt aus, liefen auf die Betenden zu.
Obwohl ihre Augen blind waren, fing Alessia die erste kleine Welle mit der Hand auf und füllte sie in eine flache Schale, murmelte einen Dank und wartete auf die nächsten Tropfen, die in nun rascherer Folge das Behältnis füllen sollten. Dieses Wasser würde im weiteren Verlauf der Zeremonie mit Kräuterextrakten und aus Pilzen gewonnenen halluzinogenen Drogen, die die alte Weise in einem Beutel um den Hals trug, vermengt und getrunken, um sie zu befähigen, sich auf die schamanische Reise in die Welt der Geister zu begeben, die der Don mit dem monotonen Schlag seiner Heiligen Trommel begleiten würde.
Geduldig würden die übrigen Mitglieder des Rates auf das warten, was ihnen Alessia aus diesem Reich an Antwort auf ihre Frage mitbringen würde…
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War es Zufall oder Fügung? Zur exakt gleichen Stunde saßen die sechs Mitglieder von Neue Hoffnung Erde meditierend vor dem Kristallschädel und hofften auf Antwort von Coratscha. Plötzlich musste Markus an etwas denken und wollte es sofort
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