Zeitoun (German Edition)
»Ehrlich? Es ist ein bisschen unheimlich.« Kathy gegenüber hätte er das niemals zugegeben, doch Adnan konnte er sich anvertrauen.
»Willst du bleiben?«, fragte Adnan.
Zeitoun sagte, dass er das vorhabe, und bot an, nach Adnans Läden zu sehen. Vor seiner Abfahrt hatte Adnan die Kasse in dem Laden an der City Park Avenue geleert und dafür gesorgt, dass Brot gebacken wurde. Er war davon ausgegangen, am Dienstag wieder zurückzukommen.
»Kennst du irgendwelche Moscheen in Baton Rouge?«, fragte Adnan. Sämtliche Motels waren belegt, und er und Abeer kannten in der Stadt niemanden. In der Nacht zuvor war es ihnen gelungen, Adnans Eltern in einer Moschee unterzubringen, aber dort schliefen schon Hunderte Menschen auf dem Boden, und noch mehr konnten einfach nicht aufgenommen werden. Adnan und Abeer hatten die Nacht im Auto verbracht.
»Nein«, sagte Zeitoun. »Aber ruf Kathy an. Sie ist bei ihrer Familie. Ihr könnt bestimmt bei ihnen unterkommen.« Er gab Adnan ihre Handynummer.
Zeitoun leerte sämtliche Eimer im Haus, stellte sie wieder unter die Löcher im Dach und ging ins Bett. Draußen war es warm, drinnen stickig. Er lag in der Dunkelheit. Er dachte über die Kraft des Sturms nach, seine Dauer, wie erstaunlich geringfügig die Schäden am Haus waren. Er ging zum vorderen Fenster. Schon jetzt, um acht Uhr abends, waren die Straßen staubtrocken. Die Menschen waren in Massen geflohen, und weswegen? Hunderttausende hatte es Richtung Norden getrieben. Wegen ein paar Zentimetern Wasser, das jetzt restlos verschwunden war.
In jener Nacht war es ruhig. Er hörte keinen Wind, keine Stimmen, keine Sirenen. Da war nur der Klang einer Stadt, die atmete, wie er atmete, erschöpft vom Kampf, dankbar, dass es vorbei war.
DIENSTAG , 30. AUGUST
Wieder erwachte Zeitoun spät. Er schaute blinzelnd zum Fenster hinauf, sah denselben grauen Himmel, hörte dieselbe eigentümliche Stille. So eine Situation hatte er noch nie erlebt. Er konnte nirgendwo hinfahren, konnte nicht arbeiten. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten gab es nichts für ihn zu tun. Es würde ein Tag der Ruhe, der Erholung für ihn werden. Er fühlte sich seltsam lethargisch, himmlisch zufrieden. Er fiel zurück in einen leichten Schlaf.
Die Insel Arwad, Heimat seiner Familie, lag in Licht getaucht. Die Sonne schien hier unaufhörlich, ein warmes weißes Licht, das die Steinhäuser und Kopfsteinpflastergassen ausbleichte und das sie umgebende kobaltblaue Meer unglaublich klar erscheinen ließ.
Wenn Zeitoun von Arwad träumte, dann war es das Arwad, das er in den Sommern seiner Kindheit besucht hatte, und in diesen Träumen tat er kindliche Dinge: Er umrundete die winzige Insel im Laufschritt, scheuchte Möwen auf, suchte in den Gezeitentümpeln nach Krebsen und Muscheln und anderen Kostbarkeiten, die an das felsige Ufer des Eilands gespült worden waren.
Vor der Außenmauer, die auf das weite Meer im Westen blickte, jagten er und Ahmad ein einsames Huhn durch die Ruinen. Der magere Vogel flitzte über einen Müll- und Schutthaufen zu einer Höhle aus Korallen und Gemäuer. Sie wandten sich um, als sie das Geräusch einer Fregatte hörten, die vor Anker ging, bis sie in Tartus, der Hafenstadt eine Meile weiter östlich, einlaufen konnte. Stets warteten etliche Schiffe, Tanker und Frachter auf einen Liegeplatz in dem geschäftigen Hafen, und oftmals ankerten sie so nah, dass ihr Schatten auf die winzige Insel fiel. Die Rümpfe erhoben sich sechs oder sogar neun Meter über die Wasseroberfläche, und Abdulrahman und Ahmad starrten zu ihnen hinauf, winkten den Seeleuten zu und träumten davon, selbst an Bord zu sein. Ein solches Leben schien ihnen ungeahnte Abenteuer und Freiheit zu verheißen.
Schon damals, als Ahmad noch ein dünner, sonnengebräunter fünfzehnjähriger Junge war, wusste er, dass er einmal Seemann werden würde. Er hütete sich davor, das seinem Vater zu erzählen, aber er war sicher, dass er ein solches Schiff fahren wollte. Er wollte große Dampfer um die Welt steuern, ein Dutzend Sprachen sprechen, Menschen aller Nationen kennenlernen.
Abdulrahman zweifelte nie daran, dass Ahmad seinen Traum verwirklichen würde. In Abdulrahmans Augen war Ahmad zu allem fähig. Er war sein bester Freund, sein Vorbild und Lehrer. Ahmad brachte ihm bei, wie man Fische mit einem Speer fing, wie man allein ein Boot ruderte, wie man von den hohen phönizischen Steinen an der Südmauer der Insel ins Meer sprang. Er wäre Ahmad überallhin gefolgt, und oft tat
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