Zeitoun (German Edition)
er das auch.
Die Jungen zogen sich bis auf die Unterwäsche aus und kletterten zu einer kleinen Felsgruppe. Sie holten den Speer hervor, den sie zwischen den Steinen versteckt hatten, und tauchten abwechselnd nach Fischen. Schwimmen lag den Jungen der Familie Zeitoun und allen Kindern von Arwad im Blut. Sie konnten schwimmen, sobald sie laufen konnten, und blieben oft stundenlang im Wasser. Als Ahmad und Abdulrahman wieder herauskamen, streckten sie sich auf einer niedrigen Steinmauer aus, das Meer auf der einen Seite, die Seepromenade des Ortes auf der anderen.
Die Promenade machte nicht viel her, bloß ein breiter, bröckeliger Asphaltstreifen, mit Abfall übersät, der von dem halbherzigen Versuch der Insel kündete, Touristen anzulocken. Den meisten Bewohnern von Arwad war es herzlich egal, ob Besucher kamen oder nicht. Für sie war die Insel ihre Heimat und ein Ort, an dem fleißig gearbeitet wurde: Fische wurden gefangen, geputzt und aufs Festland gebracht, und Schiffe, starke hölzerne Segelboote mit ein bis drei Masten, wurden nach Methoden gebaut, die schon vor Jahrhunderten auf der Insel entwickelt worden waren.
Arwad war für eine endlose Abfolge von Seemächten ein strategischer Militärstützpunkt gewesen: Phönizier, Assyrer, achämenidische Perser, die Griechen unter Alexander, Römer, Kreuzfahrer, Mongolen, Türken, Franzosen und Briten. Etliche Mauern und Zinnen, zerfallen und schon beinahe verschwunden, zeugten von ehemaligen Festungsanlagen. Im Zentrum der Insel standen zwei kleine Burgen, die seit dem Mittelalter kaum verändert worden waren und von den neugierigen Kindern erkundet wurden. Oft rannten Abdulrahman und Ahmad die glatten Steinstufen des Wachturms in der Nähe ihres Hauses hinauf und taten so, als entdeckten sie Angreifer, läuteten Warnglocken, planten ihre Verteidigung.
Doch normalerweise spielten sie im Wasser. Sie waren stets nur wenige Schritte vom kühlen Mittelmeer entfernt, und meist folgte Abdulrahman Ahmad zum Strand und die großen phönizischen Mauersteine hinauf. Von dort oben konnten sie in die Fenster der höher gelegenen Gebäude des Ortes blicken. Dann drehten sie sich zum Meer um und sprangen. Nach dem Schwimmen legten sie sich auf die Steinmauer, deren Oberfläche von den Brandungswellen und den Füßen zahlloser Kinder glatt poliert worden war. Sie ließen sich von den aufgeheizten Steinen und der Sonne wärmen. Dabei sprachen sie von Helden, die die Insel verteidigt hatten, von Armeen und Heiligen, die hier gelandet waren. Und sie sprachen von ihren eigenen Plänen, ihren Großtaten und Abenteuern.
Nach einer Weile wurden sie meist still, schläfrig, lauschten den Wellen, die gegen die Mauern der Insel schlugen, dem ewigen Brausen des Meeres. Aber in Zeitouns Halbschlaf hörte sich der Ozean irgendwie falsch an. Er war nicht nur leiser, sondern auch weniger rhythmisch – kein Heranrauschen und Weggleiten, sondern stattdessen das unaufhörliche Raunen eines Flusses.
Dieser Missklang weckte ihn.
II
DIENSTAG , 30. AUGUST
Zeitoun schlug die Augen auf. Er war zu Hause, im Zimmer seiner Tochter Nademah, unter ihrer Bettdecke, und blickte durch das Fenster in einen schmutzig weißen Himmel. Das Geräusch war noch da, ähnlich wie fließendes Wasser. Aber es regnete nicht, und es tropfte auch nicht durchs Dach. Er dachte, dass vielleicht eine Wasserleitung geplatzt war, aber auch dazu passte das Geräusch nicht. Es klang eher wie ein Fluss, wie die Bewegung von großen Wassermengen.
Er setzte sich auf und schaute durch das Fenster in den Garten. Er sah Wasser, ein weites Meer. Es kam von Norden. Es strömte in den Garten, unter das Haus, stieg rasch an.
Er verstand das nicht. Am Vortag war das Wasser zurückgegangen, so wie er es erwartet hatte, aber jetzt war es sehr viel stärker zurückgekehrt. Und dieses Wasser sah anders aus als das trübe Regenwasser vom Vortag. Dieses Wasser war grün und klar. Es war Seewasser – aus dem Lake Pontchartrain.
In diesem Moment begriff Zeitoun, dass die Deiche überspült worden waren oder nicht standgehalten hatten. Es gab keinen Zweifel. Bald würde die Stadt überflutet sein. Er wusste, wenn das Wasser bis hierher vorgedrungen war, dann bedeckte es bereits große Teile von New Orleans. Er wusste, dass noch mehr kommen würde, dass es in seiner Wohngegend gut und gerne zweieinhalb Meter hoch steigen würde, und in anderen Vierteln noch deutlich höher. Er wusste, dass es Monate oder Jahre dauern würde, die Schäden zu
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