Zeitoun (German Edition)
Da war das Kanu. Es lockte ihn, trieb im Wasser, einsatzbereit. Es war eine seltene Gelegenheit, dachte er, durch die Straßen gleiten zu können. Er hatte nur diesen einen Tag. Er schöpfte das Wasser aus dem Rumpf und stieg mit T-Shirt, Shorts und Turnschuhen bekleidet ein.
Aus dem Garten zu kommen war schwierig. Auf der anderen Straßenseite war ein entwurzelter Baum quer über die Straße gestürzt und versperrte mit seiner Krone die Einfahrt. Zeitoun paddelte um den Baum herum und schaute zurück auf das Haus. Außen waren keine größeren Schäden entstanden. Einige Dachschindeln fehlten. Die Fenster waren zerbrochen. Eine Regenrinne müsste neu befestigt werden. Nichts wirklich Schlimmes, drei Tage Arbeit.
Andere Häuser in der Nachbarschaft waren von allen möglichen Trümmerteilen getroffen worden. Fenster waren zerborsten. Nasse, dunkle Äste bedeckten Autos, die Straße. Überall lagen entwurzelte Bäume.
Die Stille war durchdringend. Der Wind kräuselte das Wasser, doch ansonsten war alles ruhig. Keine Autos unterwegs, keine Flugzeuge am Himmel. Ein paar Nachbarn standen auf ihren Veranden oder wateten durch ihre Gärten, machten sich ein Bild von den Schäden. Keiner wusste, wann oder womit er anfangen sollte. Zeitoun wusste, dass viele Leute ihn in den kommenden Wochen um einen Kostenvoranschlag bitten würden.
Er paddelte nur ein paar Blocks weit, ehe ihm Bedenken kamen. Überall lagen abgerissene Stromleitungen im Wasser. Was würde passieren, wenn sie mit seinem Aluminiumkanu in Kontakt kamen? Außerdem stand das Wasser nicht hoch genug, um weit paddeln zu können. In manchen Teilen des Viertels war kaum Wasser auf den Straßen, bloß ein paar Zentimeter. Er lief auf Grund, stieg aus, drehte das Kanu herum und paddelte wieder nach Hause.
Den ganzen Nachmittag über zog sich das Wasser aus den Straßen zurück, pro Stunde ein paar Zentimeter. Das Ableitungssystem funktionierte. Bis zum Abend war das Wasser völlig verschwunden. Die Straßen waren trocken. Der Schaden war umfangreich, aber nicht wesentlich schlimmer als nach einigen anderen Stürmen, an die Zeitoun sich erinnern konnte. Und es war vorüber.
Er rief Kathy an.
»Kommt zurück«, sagte er.
Kathy hätte am liebsten Ja gesagt, aber es war schon sieben Uhr, sie wollten gerade zu Abend essen, und sie wusste, dass sie nicht noch einmal mit vier Kindern und einem Hund, der Blähungen hatte, die Nacht durchfahren konnte. Außerdem war New Orleans ohne Strom, also würde es ihnen dort auch nicht besser ergehen als in Baton Rouge. Die Kinder genossen noch immer die Zeit mit ihren Cousins und Cousinen – das Lachen, das durchs Haus klang, war der beste Beweis dafür.
Sie und Zeitoun vereinbarten, am nächsten Morgen noch einmal darüber zu reden, obwohl sie eigentlich beide davon ausgingen, dass Kathy und die Kinder im Laufe des kommenden Tages die Rückfahrt antreten würden.
Sie ging zurück ins Haus, und die Großfamilie, drei Erwachsene und acht Kinder, aßen bei Kerzenlicht Hotdogs. Es entging Kathy nicht, dass ihre Schwestern Schweinefleisch auf den Tisch gebracht hatten, aber sie war fest entschlossen, deswegen keinen Streit anzufangen. Lass es gut sein, sagte sie sich. Lass gut sein, lass gut sein. Sie hatte an so vielen Fronten zu kämpfen, und in den kommenden Tagen würden es ganz sicher noch deutlich mehr werden, weshalb sie ihre Energie nicht an ihre Schwestern und Hotdogs verschwenden sollte. Wenn sie ihren Kindern Schweinefleisch vorsetzen wollten, sollten sie doch.
Später, als Kathy sich im Auto ein paar ungestörte Augenblicke gönnte und das Radio einschaltete, hörte sie, wie Bürgermeister Nagin ihr praktisch recht in ihrer Entscheidung gab, nicht gleich nach Hause zu fahren. Kommt noch nicht zurück, sagte er. Wartet ab, bis klar ist, wie groß die Schäden sind, bis alles wieder ruhig und aufgeräumt ist. Lasst euch noch ein oder zwei Tage Zeit.
Am Nachmittag erhielt Zeitoun einen Anruf von Adnan, einem Cousin zweiten Grades mütterlicherseits. Adnan war es gut ergangen, seit er vor über einem Jahrzehnt emigriert war. Er betrieb vier Subway-Niederlassungen in New Orleans. Seine Frau Abeer war mit ihrem ersten Kind im sechsten Monat schwanger.
»Bist du noch in der Stadt?«, fragte Adnan, obwohl er davon ausging.
»Klar. Bist du in Baton Rouge?«, fragte Zeitoun.
»Ja.« Adnan war in der Nacht zuvor mit Abeer und seinen betagten Eltern dorthin gefahren. »Wie ist die Lage?«
»Windig«, sagte Zeitoun.
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