Zeitoun (German Edition)
Baum hinten im Garten aufs Haus stürzen könnte. Falls das geschah, wäre der Schaden erheblich, weil das Wasser dann ungehindert eindringen würde.
Aber er war zuversichtlich. Und er wollte auf jeden Fall im Haus bleiben, in dessen Modernisierung er Zigtausende investiert hatte, und es gegen jedwede Gefahr schützen. Seine Großmutter war während zahlloser Stürme in ihrem Haus auf Arwad geblieben, und er wollte es ebenso halten. Es lohnte sich, für sein Zuhause zu kämpfen.
Das Einzige, was ihm ernsthaft Kopfzerbrechen bereitete, waren die Deiche. Wieder und wieder wurde in den Nachrichten vor einer Sturmflut gewarnt. Die Deiche waren für einen Pegelstand von gut vier Metern ausgelegt, und die Sturmwellen auf dem Golf hatten schon jetzt eine Höhe von fünfeinhalb bis sechs Metern erreicht. Er wusste, falls die Deiche brachen, wäre der Kampf verloren.
Um acht Uhr rief er Kathy an.
»Na endlich«, sagte sie. »Wo hast du denn gesteckt?«
Er blickte auf sein Handy und sah, dass er drei Anrufe von ihr verpasst hatte.
»Anscheinend ist das Netz zwischendurch schon ausgefallen«, sagte er. Sein Handy hatte nicht geklingelt. Er sagte ihr, dass bis jetzt noch nichts weiter passiert war. Bloß heftiger Wind. Nichts Neues.
»Bleib von den Fenstern weg«, sagte sie.
Er sagte, er würde es versuchen.
Kathy überlegte laut, ob es nicht irgendwie albern war, was sie da machten. Ihr Mann befand sich in der Zugbahn eines Hurrikans der Kategorie 5, und sie redeten darüber, dass er von den Fenstern wegbleiben sollte.
»Grüß die Kinder von mir«, sagte er.
Sie sagte, das würde sie.
»Wir sollten Schluss machen. Den Akku schonen«, sagte er.
Sie sagten einander Gute Nacht.
Nachdem die Kinder eingeschlafen waren, saß Kathy im Haus ihres Bruders Andy auf der Couch und starrte auf die Kerze vor sich. Das war das einzige Licht, das noch im Haus brannte.
Um kurz nach elf erreichte die Front des Sturms Zeitouns Haus. Der Himmel war giftig grau, der Wind böig und kalt. Es regnete in Strömen. Das Chaos draußen steigerte sich im Halbstundenrhythmus. Um Mitternacht fiel der Strom aus. Gegen zwei oder drei begann Wasser ins Haus einzudringen. Das erste Leck entstand in einer Ecke von Nademahs Zimmer. Zeitoun ging in die Garage und holte einen 150-Liter-Abfalleimer, um das Wasser aufzufangen. Wenige Minuten später entdeckte er die nächste undichte Stelle, diesmal oben im Flur. Zeitoun holte noch einen Abfalleimer. Kurz nach drei Uhr zerbarst eine Fensterscheibe im Elternschlafzimmer, als wäre sie mit einem Stein eingeworfen worden. Zeitoun sammelte die Scherben auf und stopfte ein Kissen in die Öffnung. Ein weiteres Leck bildete sich in Safiyas und Aishas Zimmer. Er holte einen weiteren, noch größeren Abfalleimer.
Er schleppte die ersten beiden Eimer nach draußen und kippte sie auf dem Rasen aus. Der Himmel war wie von einem Kind mit Fingerfarben gemalt, Blau und Schwarz wild durcheinander gemischt. Der Wind war kälter geworden. Die ganze Gegend war pechschwarz. Als er auf dem Rasen stand, hörte er irgendwo in der Nähe einen Baum umstürzen – ein Krachen und dann ein Rauschen, als die Äste durch andere Baumkronen hindurchglitten und an einer Hauswand liegen blieben.
Er ging wieder ins Haus.
Ein zweites Fenster war kaputtgegangen. Er stopfte ein weiteres Kissen hinein. Äste kratzten an den Hauswänden entlang, am Dach. Überall polterte und dröhnte es. Die Knochen des Hauses schienen unter der Anspannung zu ächzen. Das Haus wurde angegriffen.
Als er das nächste Mal auf die Uhr sah, war es vier Uhr morgens. Seit fünf Stunden war er pausenlos im Einsatz. Wenn es mit den Schäden so weiterging, würde es schlimmer werden, als er vorhergesehen hatte. Und dabei war der eigentliche Sturm noch gar nicht da.
Irgendwann in den frühen Morgenstunden hatte Zeitoun eine Idee. Er rechnete zwar nicht damit, dass die Stadt überflutet werden würde, aber die Möglichkeit bestand. Also ging er nach draußen, in den angenehm kühlen Wind, und schleifte das Kanu, das er mal gebraucht gekauft hatte, aus der Garage und richtete es auf. Er wollte für den Fall der Fälle gewappnet sein.
Wenn Kathy ihn doch jetzt sehen könnte. Sie hatte die Augen verdreht, als er mit dem Kanu nach Hause kam. Er hatte es einige Jahre zuvor von einem Kunden am Bayou St. John erstanden. Als der Kunde umzog, hatte Zeitoun das Kanu, ein Standardmodell aus Aluminium, auf dem Rasen gesehen und ihn gefragt, ob er es verkaufen wollte. Der
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