Zeitoun (German Edition)
überließen es der Frau zu entscheiden, wann sie losfahren sollten. Sie wussten, dass es für sie unerträglich sein musste, ihr Haus so zu sehen, mit den unbeschreiblichen Schäden und dem Verlust ihres gesamten Eigentums. Es würde Jahre dauern, das Haus wieder herzurichten, und angesichts ihres hohen Alters würde sie wahrscheinlich nie wieder darin leben. Sie ließen ihr einen Moment Zeit. Schließlich nickte sie, und die Männer machten den Konvoi bereit. Zeitoun saß allein in dem Kanu und wurde von dem Fischerboot gezogen. Er war nass und erschöpft.
Frank dirigierte das Fischerboot zurück zu dem Ehepaar, das mit dem weißen Tuch gewinkt hatte. Auf dem Weg dorthin hörten sie Hilferufe.
Es war ein weiteres älteres Ehepaar über siebzig, das aus einem Fenster im zweiten Stock winkte.
»Sollen wir Sie mitnehmen?«, fragte Frank.
»Ja«, sagte der Mann im Fenster.
Die jungen Fischer lenkten die Karawane zum Fenster, und das Paar, beide fit und gelenkig, kletterte ins Boot.
Mit sechs Personen an Bord des Fischerbootes erreichten sie das Haus mit der weißen Fahne. Das Paar stieg aus dem Fenster ins Boot, wodurch sich die Zahl der Passagiere auf acht erhöhte. Die jungen Männer hatten gesehen, dass an der Kreuzung Napoleon Avenue und St. Charles Avenue eine Sammelstelle mit Erste-Hilfe-Station eingerichtet worden war, und sie beschlossen, ihre Passagiere dort hinzubringen. Es wurde Zeit, dass Zeitoun und Frank sich von ihren Begleitern trennten. Frank kletterte zurück ins Kanu und verabschiedete sich.
»Viel Glück weiterhin«, sagte einer der jungen Männer.
»Euch auch«, erwiderte Zeitoun.
Sie hatten sich nicht mal vorgestellt.
In Baton Rouge fuhr Kathy wieder ziellos herum, um die Zeit totzuschlagen, das Auto voller Kinder. Sie musste sich von den Nachrichten im Radio ablenken, die stündlich schlimmer wurden, und hielt in regelmäßigen Abständen vor irgendwelchen Läden oder Restaurants, die geöffnet hatten. Letzte Nacht hatte Zeitoun so ruhig geklungen, ehe sein Akku leer ging. Doch seitdem hatte sich die Lage in der Stadt verschlechtert. Sie hörte Berichte von unkontrollierter Gewalt, allgegenwärtigem Chaos, von Tausenden Vermissten. Was machte ihr verrückter Mann noch da? Sie versuchte wieder und wieder, ihn auf dem Handy zu erreichen, hoffte, dass er irgendeine Möglichkeit gefunden hatte, es aufzuladen. Sie probierte die Nummer zu Hause aus, für den Fall, dass das Wasser die Telefonverteilerbox wieder freigegeben hatte und die Kabel wie durch ein Wunder unbeschädigt geblieben waren. Erfolglos. Die Leitungen waren tot.
Im Radio wurde gemeldet, dass weitere zehntausend Mann der Nationalgarde in die Gegend entsandt wurden, etwa ein Drittel von ihnen mit dem Befehl, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Bald wären einundzwanzigtausend Nationalgardisten aus allen Teilen des Landes, aus West Virginia, Utah, New Mexico und Missouri, vor Ort. Wie konnte ihr Mann so ruhig sein, wenn sämtliche Truppengattungen der Streitkräfte mobilisiert wurden?
Sie schaltete das Radio ab und versuchte wieder, Zeitoun zu erreichen. Nichts. Sie wusste, sie sollte sich noch keine Sorgen machen, aber sie malte sich die schlimmsten Szenarien aus. Wenn sie jetzt schon keinen Kontakt mehr zu ihrem Mann hatte, wie sollte sie es dann jemals erfahren, wenn ihm etwas passierte? Wie sollte sie herausfinden, ob er am Leben war, in Gefahr, tot? Sie regte sich unnötig auf. Er war nicht in Gefahr. Der Sturm war vorbei, und jetzt war da nur Wasser, friedliches Wasser. Und es waren Truppen unterwegs. Kein Grund zur Sorge.
Als sie wieder im Haus ihrer Familie in Baton Rouge ankam, war ihre Mutter da. Sie war gekommen, um ihnen Eiswürfel zu bringen. Sie begrüßte die Kinder und sah Kathy an.
»Nimm doch das Ding ab und entspann dich ein bisschen«, sagte sie, auf Kathys Hijab deutend. »Er ist nicht hier. Sei du selbst.«
Kathy verkniff sich ein Dutzend Bemerkungen, die ihr auf der Zunge lagen, und reagierte ihren Zorn stattdessen ab, indem sie anfing zu packen. Sie würde die Kinder nehmen und in ein Motel ziehen, irgendeinen Unterschlupf suchen. Irgendwo. Vielleicht in Arizona. In Baton Rouge, das ging einfach nicht mehr. Und zu allem Übel wusste sie nicht mal, was mit Zeitoun war. Wieso hatte dieser Mann darauf bestanden zu bleiben? Es war grausam, wirklich. Er wollte seine Familie in Sicherheit wissen, aber was seine eigene Sicherheit betraf, musste Kathy im Ungewissen bleiben. Wenn sie das nächste Mal miteinander
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