Zeitoun (German Edition)
Ordnung.«
Kathy wusste, dass es ihr nicht gelingen würde, ihn umzustimmen. Aber wenn ihre Kinder Bilder der überfluteten Stadt sahen, wie sollte sie ihnen dann erklären, dass ihr Vater aus freien Stücken dort war und in einem Kanu aus zweiter Hand durch die Straßen paddelte? Sie versuchte, vernünftig mit ihm zu reden, erwähnte die Fernsehnachrichten, in denen es hieß, dass die Lage sich verschlimmern würde, dass das Wasser schon bald mit allen möglichen Schadstoffen verschmutzt sein würde – Öl, Müll, Tierkadaver – und dass dann Seuchengefahr bestand.
Zeitoun versprach ihr, vorsichtig zu sein. Er versprach, am nächsten Tag mittags wieder aus dem Haus auf der Claiborne anzurufen.
»Ruf mich jeden Tag um zwölf Uhr an«, sagte sie.
Er versprach es.
»Wehe, wenn nicht«, sagte sie.
Sie legten auf. Kathy machte den Fernseher an. Die Nachrichten brachten als Erstes Meldungen von Gesetzlosigkeit und Tod. Die Medien waren sich einig, dass New Orleans in einen »Dritte-Welt-Status« gesunken war. Manchmal wurde dieser Vergleich im Hinblick auf die Lebensbedingungen gezogen, weil Krankenhäuser geschlossen oder funktionsunfähig waren, weil es kein sauberes Wasser gab und sonstige Grundbedürfnisse unversorgt blieben. Andere Male indes bezog er sich auf Bilder von afroamerikanischen Einwohnern, die vor dem Morial Convention Center in der Hitze fast umkamen oder auf Dächern standen und winkten, um auf sich aufmerksam zu machen. Es gab unbestätigte Berichte über bewaffnete Plünderer, über Hubschrauber, die bei dem Versuch, Patienten von einem Krankenhausdach zu retten, unter Beschuss genommen worden waren. Die Bewohner der Stadt wurden nur noch als Flüchtlinge bezeichnet.
Kathy war sicher, dass Zeitoun nichts von dem Ausmaß der Gefahren wusste, von denen die Medien berichteten. Mochte ja sein, dass er sich in ihrer Wohngegend sicher fühlte, aber was, wenn andernorts tatsächlich das Chaos herrschte und einfach noch nicht bei ihm angekommen war? Sie stand der sensationslüsternen und rassistisch aufgeladenen Berichterstattung in den Nachrichten skeptisch gegenüber, aber dennoch, die Lage verschlechterte sich. Die meisten noch in der Stadt verbliebenen Menschen versuchten verzweifelt, hinauszukommen. Kathy hielt es nicht mehr aus. Sie rief erneut in dem Haus auf der Claiborne an. Niemand meldete sich.
Zeitoun war schon wieder weg. Er und Frank paddelten zurück zu Zeitouns Haus auf der Dart Street. Unterwegs passierten sie ein halbes Dutzend Propellerboote, und Zeitoun kam der Gedanke, dass er und Frank die Menschen, denen sie geholfen hatten – vor allem die alte Frau, die in ihrem Haus im Wasser trieb –, nur deshalb gehört hatten, weil sie in einem Kanu saßen. In einem Propellerboot hätten sie bei dem lauten Krach, den diese Boote machten, gar nichts gehört. Sie wären weitergefahren, und eine weitere Nacht hätte die Frau wahrscheinlich nicht überlebt. Gerade dank dieses kleinen, ruhigen Bootes war es ihnen möglich, auch die leisesten Rufe zu hören. Das Kanu war gut, die Stille entscheidend.
Zeitoun setzte Frank an seinem Haus ab und fuhr weiter nach Hause. Sein Paddel liebkoste das saubere Wasser, seine Schultern arbeiteten gleichmäßig im Takt. Er hatte an diesem Tag schon fünf, sechs Meilen zurückgelegt, doch er war kein bisschen müde. Es wurde allmählich dunkel, und er wusste, er musste nach Hause auf sein sicheres Dach. Aber er bedauerte es, dass der Tag zu Ende ging.
Zeitoun vertäute das Kanu an der rückwärtigen Veranda und stieg ins Haus. Er holte einen tragbaren Grill und brachte ihn aufs Dach, wo er ein kleines Feuer machte und sich Hähnchenbrustfilets und Gemüse briet, das den Tag über aufgetaut war. Während er aß, wurde es Nacht, und kurz darauf war der Himmel dunkler, als er das in New Orleans je erlebt hatte. Das einzige Licht kam von einem Hubschrauber, der über dem Stadtzentrum kreiste und in der Ferne winzig und hilflos aussah.
Zeitoun wusch sich mit Wasser aus Flaschen und betete auf dem Dach. Er kroch ins Zelt, körperlich erschöpft, aber geistig hellwach, und ließ die Ereignisse des Tages noch einmal Revue passieren. Er und Frank hatten diese Frau doch tatsächlich gerettet, oder? Ja, das hatten sie. Wirklich und wahrhaftig. Und vier andere hatten sie in Sicherheit gebracht. Morgen würde es noch mehr zu tun geben. Wie sollte er Kathy erklären oder seinem Bruder Ahmad, dass er froh und dankbar war, in der Stadt geblieben zu sein? Er war
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