Zeitoun (German Edition)
mitzunehmen, versprachen Zeitoun und Frank, jemanden herzuschicken, sobald sie auf der Claiborne wären. Sie gingen davon aus, dort Hilfe zu finden, denn wenn irgendwo Polizei und Militär unterwegs waren, dann bestimmt auf der Claiborne Avenue, einer der Hauptadern der Stadt.
»Wir kommen wieder«, sagte Zeitoun.
Als sie vom Haus des Paares wegpaddelten, hörten sie eine schwache Frauenstimme. Ein Stöhnen, schwach und zittrig.
»Haben Sie das gehört?«, fragte Zeitoun.
Frank nickte. »Das kommt aus dieser Richtung.«
Sie hielten auf das Geräusch zu und hörten die Stimme erneut.
»Hilfe.«
Sie kam aus einem eingeschossigen Haus auf der Nashville Avenue.
Als sie beinahe an der Haustür waren, hörten sie wieder die Stimme: »Hilfe.«
Zeitoun ließ das Paddel fallen und sprang ins Wasser. Er hielt die Luft an und schwamm zur Veranda. Die Stufen kamen schneller, als er gedacht hatte. Er stieß sich das Knie am Gemäuer und keuchte vor Schmerz. Als er stehen konnte, reichte ihm das Wasser bis zum Hals.
»Alles klar?«, fragte Frank.
Zeitoun nickte und ging die Stufen hoch.
»Hallo?«, sagte die Stimme nun hoffnungsvoll.
Er versuchte, die Haustür zu öffnen. Sie klemmte. Zeitoun trat gegen die Tür. Sie rührte sich nicht. Er trat wieder. Nichts. Das Wasser ging ihm hier bis zur Brust, und er warf sich gegen dessen Widerstand gegen die Tür. Wieder und wieder. Schließlich gab sie nach.
Drinnen sah er eine Frau über sich schweben. Sie war mindestens siebzig und sehr beleibt, an die hundert Kilo. Ihr gemustertes Kleid war auf der Wasseroberfläche ausgebreitet wie eine prächtige dahintreibende Blüte. Die Beine hingen frei. Sie hielt sich an einem Bücherregal fest.
»Helfen Sie mir«, sagte sie.
Zeitoun sprach beruhigend auf die Frau ein, versicherte ihr, dass sie sich um sie kümmern würden. Er wusste, dass sie sich wahrscheinlich schon seit vierundzwanzig Stunden oder noch länger dort festklammerte. Eine ältere Frau wie sie konnte sich unmöglich schwimmend in Sicherheit bringen, und sie hatte erst recht nicht die Kraft, ein Loch ins Dach zu schlagen. Wenigstens war das Wasser warm. Sonst hätte sie vielleicht nicht überlebt.
Zeitoun zog sie durch die Tür nach draußen und sah zu Frank im Kanu hinüber. Der saß mit offenem Mund und ungläubigem Blick da.
Keiner der beiden wusste, wie es nun weitergehen sollte. Schon unter normalen Bedingungen wäre es äußerst schwierig gewesen, eine Frau von ihrer Leibesfülle im Kanu unterzubringen. Und um sie hineinzuhieven, wären mehr als zwei Männer erforderlich. Selbst wenn ihnen das wundersamerweise gelänge, würden sie unmöglich zu dritt in das Kanu passen. Falls doch, würde es mit Sicherheit kentern.
Zeitoun und Frank beratschlagten sich hastig im Flüsterton. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Frau zurückzulassen und Hilfe zu holen. Sie würden rasch zur Claiborne paddeln und ein Boot anhalten. Sie erklärten der Frau ihren Plan. Sie wollte nicht wieder allein bleiben, aber es gab keine andere Möglichkeit.
Wenige Minuten später erreichten sie die Claiborne Avenue und entdeckten auf Anhieb, was sie suchten: ein Propellerboot. Zeitoun hatte noch nie eins mit eigenen Augen gesehen, aber er kannte sie aus Filmen. Das hier war ein Militärmodell, laut und mit einem riesigen Propeller, der senkrecht am Heck montiert war. Es kam direkt auf sie zu.
Zeitoun hielt es für einen Glücksfall, dass sie so schnell ein Boot gefunden hatten. Er war regelrecht stolz, weil er Hilfe versprochen hatte und das Versprechen nun würde halten können.
Er und Frank steuerten ihr Kanu in den Fahrweg des Bootes und schwenkten die Arme. Das Propellerboot kam auf sie zugerast, und als es ganz nah war, konnte Zeitoun erkennen, dass vier oder fünf Uniformierte an Bord waren. Er war nicht sicher, ob es Polizisten oder Soldaten waren, aber er war sehr froh, sie zu sehen. Er winkte, ebenso wie Frank, und beide riefen sie: »Anhalten!« und »Hilfe!«.
Doch das Propellerboot hielt nicht an. Ohne das Tempo zu drosseln, schwang es um das Kanu herum und brauste weiter die Claiborne hinab. Die Männer an Bord würdigten sie keines Blickes.
Die Heckwelle des Propellerboots brachte das Kanu fast zum Kentern. Zeitoun und Frank saßen reglos da und klammerten sich an den Seitenwänden fest, bis die Wellen abflauten. Sie hatten kaum Zeit, einander ungläubig anzuschauen, da näherte sich schon das nächste Boot. Wieder war es ein Propellerboot, wieder mit vier
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