Zeitoun (German Edition)
nächstgelegenen Deich entfernt lag, war das Wasser recht langsam gestiegen, und er ging davon aus, dass niemand in den Fluten ums Leben gekommen war. Doch mit einem Schaudern dachte er an die Menschen, die näher an den gebrochenen Deichen lebten. Er wusste nicht, wo die ersten nachgegeben hatten, aber er wusste, dass dort alles sehr schnell gegangen sein musste.
Er bog nach links auf den Vincennes Place ein. Jemand rief seinen Namen. Als er aufblickte, sah er einen seiner Kunden, Frank Noland, einen gesunden und kräftigen Mann von etwa sechzig, der aus einem Fenster im ersten Stock lehnte. Zeitoun hatte vor ein paar Jahren an seinem Haus gearbeitet. Wenn die Zeitouns Frank und seiner Frau gelegentlich in der Nachbarschaft begegneten, grüßten sie einander immer herzlich.
Zeitoun winkte und paddelte hinüber.
»Haben Sie eine Zigarette?«, fragte Frank von oben.
Zeitoun schüttelte den Kopf und ließ sich näher an das Fenster treiben, in dem Frank aufgetaucht war. Es war ein seltsames Gefühl, durch den Garten des Mannes zu paddeln. Die Absperrung, die normalerweise verhinderte, dass man mit dem Auto bis vors Haus fahren konnte, war verschwunden. Jetzt konnte Zeitoun direkt von der Straße aus quer über den Rasen bis knapp unterhalb des Fensters im ersten Stock gleiten. Er musste sich erst an die neuen physikalischen Gesetze dieser Welt gewöhnen.
Frank trug nur eine kurze Tennishose und kein Hemd. Seine Frau stand hinter ihm, und sie hatten noch einen Gast im Haus, eine Frau etwa in ihrem Alter. Beide Frauen, bekleidet mit T-Shirts und Shorts, litten unter der Hitze. Es war noch früh am Tag, aber schon drückend schwül.
»Meinen Sie, Sie könnten mich irgendwohin bringen, wo ich Zigaretten kaufen kann?«, fragte Frank.
Zeitoun erklärte, er könne sich nicht vorstellen, dass an diesem Morgen irgendein Laden geöffnet hätte und Zigaretten verkaufte.
Frank seufzte. »Sehen Sie, was mit meinem Motorrad passiert ist?« Er zeigte auf die Veranda des Nachbarhauses.
Zeitoun erinnerte sich, dass Frank von seinem Motorrad erzählt hatte – eine Oldtimermaschine, die er gekauft, wieder in Schuss gebracht und liebevoll gepflegt hatte. Jetzt stand das Motorrad zwei Meter tief unter Wasser. Am Vortag, als das Wasser kam, hatte Frank es von der Einfahrt auf die Veranda gewuchtet und später dann auf die Veranda der Nachbarn, die höher war. Aber nun war es verschwunden. Sie konnten nur noch schwach die verschwommenen Konturen der Maschine erkennen, wie ein Relikt aus einer untergegangenen Zivilisation.
Er und Frank unterhielten sich ein Weilchen über den Sturm, die Flut, darüber, dass Frank irgendwie damit gerechnet hatte und dann auch wieder überhaupt nicht.
»Würden Sie mich vielleicht mitnehmen, damit ich nach meinem Pick-up sehen kann?«, fragte Frank. Zeitoun war einverstanden, erklärte Frank aber, dass er noch ein Stück weiterfahren müsse. Er hatte vor, nach einem seiner Mietshäuser zu sehen, etwa zwei Meilen entfernt.
Frank wollte mitkommen und stieg aus dem Fenster ins Kanu. Zeitoun reichte ihm das zweite Paddel, und sie fuhren los.
»Funkelnagelneuer Pick-up«, sagte Frank. Er hatte ihn auf dem Fontainebleau Drive geparkt, der etwas höher lag als Vincennes Place, und gehofft, der Wagen bliebe verschont. Sie paddelten die sechs Blocks bis zu der Stelle, wo Frank den Pick-up geparkt hatte, und dann hörte Zeitoun, wie Frank nach Luft schnappte. Der Wagen stand anderthalb Meter tief unter Wasser und war ein ganzes Stück abgetrieben. Wie das Motorrad war auch er unrettbar verloren, gehörte der Vergangenheit an.
»Wollen Sie irgendwas rausholen?«, fragte Zeitoun.
Frank schüttelte den Kopf. »Ich will gar nicht hinsehen. Nichts wie weg.«
Sie fuhren weiter. Kurz darauf sahen sie einen älteren Mann, einen Arzt, den Zeitoun kannte, auf dem Balkon eines weißen Hauses. Sie paddelten in den Vorgarten und fragten den Arzt, ob er Hilfe brauche. »Nein, ich habe jemanden, der sich um mich kümmert«, sagte er. Seine Haushälterin sei bei ihm, und sie seien fürs Erste gut versorgt.
Ein Stück weiter sahen Zeitoun und Frank ein Haus, aus dessen oberem Fenster ein großes weißes Tuch wehte. Als sie näher kamen, sahen sie ein etwa siebzigjähriges Ehepaar aus dem Fenster lehnen.
»Ergeben Sie sich?«, fragte Frank.
Der Mann lächelte.
»Möchten Sie hier weg?«, fragte Zeitoun.
»Ja, unbedingt«, sagte der Mann.
Da es zu gefährlich gewesen wäre, noch eine dritte Person im Kanu
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