Zeitoun (German Edition)
Personen zu erfahren, die am vergangenen Di., 6. Sept., gezwungen wurden, New Orleans zu verlassen? Wo sind sie jetzt?
Ich wäre froh, etwas über meinen Bruder zu erfahren, zu dem wir seit Di., 6. Sept., 14:30 Uhr den Kontakt verloren haben. Er war in dem Haus 5010 S. Claiborne Ave. 70125-4941, New Orleans. Er war mit einem kleinen Boot von dem Haus 4649 Dart St., wo er wohnt, dorthin gefahren.
Angaben zu meinem Bruder:
Alter: 47
Adresse: 4649 Dart St., New Orleans, LA 70125-2716.
Von dem Zeitpunkt an haben wir nichts mehr von ihm gehört.
Bitte versuchen Sie, uns zu helfen.
Mit herzlichem Dank,
Ahmad Zeton
Malaga, Spanien
Als es Mittagszeit in New Orleans war, rief Kathy im Claiborne-Haus an. Sie ließ das Telefon klingeln, wünschte sich mit aller Kraft, dass das Geräusch aufhörte, dass es von der Stimme ihres Mannes unterbrochen würde. Den ganzen Tag über rief sie immer wieder an, doch das Klingeln fand kein Ende.
Walt und Rob riefen an. Kathy erzählte ihnen, dass sie nichts mehr von Zeitoun gehört hatte, und fragte, ob Walt irgendjemanden kannte, der vielleicht helfen könnte. Walt schien alle Welt zu kennen, und er hatte immer für alles eine Lösung. Er sagte, er würde einen Bekannten anrufen, einen US-Marshall, der seines Wissens in der Nähe der Stadt war. Vielleicht könnte der irgendwie zu dem Haus auf der Claiborne gelangen.
Als Kathy am Abend die Kinder zu Bett brachte, zwang sie sich, eine zuversichtliche Miene aufzusetzen. Sie fragten, ob ihr Haus unter Wasser stand, und Kathy räumte ein, dass es tatsächlich stark beschädigt war, aber zum Glück war ihr Vater ja Handwerker und könnte alles schnell wieder reparieren.
»Und wisst ihr was?«, sagte sie zu ihnen. »Jetzt bekommt ihr alle neue Möbel in euren Zimmern!«
SAMSTAG , 10. SEPTEMBER
Walt rief an. Er hatte mit dem befreundeten US-Marshall gesprochen. Der hatte versucht, zu dem Haus auf der Dart Street zu gelangen, aber das Wasser stand noch zu hoch.
Walt sagte, er würde einen Bekannten anrufen, der einen Hubschrauber besaß. Weiter hatte er noch nicht gedacht – wo der Hubschrauber hinfliegen sollte oder wie sie nach Zeitoun suchen würden –, aber er sagte, er würde weiter herumtelefonieren und sich bald wieder bei Kathy melden.
Als es Mittag in New Orleans war, rief sie genau wie am Tag zuvor im Claiborne-Haus an. Wieder fand das Klingeln kein Ende.
Zeitouns Familie rief an.
»Kathy, wo ist Abdulrahman?«, lautete die erste Frage. Diesmal war Lucy, eine seiner Nichten, am Apparat. Sämtliche Nichten und Neffen von Zeitoun sprachen fließend Englisch und übersetzten für den Rest der Familie.
»Ich weiß es nicht«, sagte Kathy.
Eine andere Nichte kam ans Telefon.
»Du musst dahin und ihn suchen!«, sagte sie beschwörend.
Den ganzen Vormittag über riefen Zeitouns Brüder und Schwestern aus Latakia an, aus Saudi-Arabien. Hatte Kathy irgendwas von ihm gehört? Wieso war sie nicht in New Orleans und suchte nach ihm? Hatte sie denn nicht die Nachrichten im Fernsehen verfolgt?
Sie sagte, nein, hatte sie nicht, weil sie es nicht ertragen konnte.
Sie brachten sie auf den neuesten Stand. Es war zu Plünderungen gekommen, Vergewaltigungen, Morden. Überall herrschte Chaos, Anarchie. Sie wiederholten den Satz von Bürgermeister Nagin, die Stadt sei in einen »entmenschten Zustand« gefallen. Und auf diese Weise bekam Kathy von den Verwandten ihres Mannes auf der anderen Seite der Erde das Zerrbild der Medien vom Zustand der Stadt geliefert. Wer weiß, dachte sie, inwieweit die Medien die Sachlage verfälschen.
Fünfundzwanzigtausend Leichensäcke waren in das Gebiet gebracht worden, erzählten sie. Wie könnt ihr in diesem Land leben?, fragten sie. Ihr müsst hierher ziehen. Syrien ist so viel sicherer, sagten sie.
Kathy konnte weder mit den Fragen noch mit dem Druck umgehen. Sie war überwältigt, hilflos, zitterte. Sie beendete das Gespräch so höflich, wie sie konnte.
Sie ging ins Bad und betrachtete zum ersten Mal seit Tagen ihr Gesicht. Sie hatte bläuliche Ringe um die Augen. Sie nahm ihren Hijab ab, und ihr stockte der Atem. Ihr Haar. Vor alldem hatte sie höchstens zehn graue Haare gehabt. Jetzt zog sich ein weißer Streifen so breit wie ihre Hand über ihren Kopf.
Yuko verbot Kathy, ans Telefon zu gehen, wenn irgendjemand aus Syrien anrief. Sie fing die Anrufe ab und sagte, dass Kathy alles tat, was sie konnte, alles, was menschenmöglich war.
Yuko und ihr Mann Ahmaad fuhren mit Kathy und den Kindern zum
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