Kriminalität im Superdome. »Da waren Babys drin. Kleine Babys, die vergewaltigt worden sind«, sagte er unter Tränen. Und Bürgermeister Nagin: »Drei Tage lang haben wir praktisch nur Essen rationiert, gekämpft, die Leute – deshalb sind die Leute meiner Meinung nach in diesen fast entmenschten Zustand geraten, weil sie nicht genügend versorgt worden sind. Sie saßen in der Falle. Machen Sie sich auf Bilder gefasst, die Sie nicht unbedingt sehen wollen. Da draußen sind Leute, die seit fünf Tagen in diesem verdammten Superdome hocken und Leichen sehen, die sehen, wie Verbrecher Menschen umbringen, Menschen vergewaltigen. Das ist die Tragödie. Leute haben versucht, uns ihre sterbenden Babys zu geben.«
Kathy machte den Fernseher wieder aus, diesmal endgültig. Sie rief im Claiborne-Haus an. Das Telefon klingelte und klingelte. Sie tigerte auf und ab. Sie ging nach draußen in die sengende Hitze von Phoenix und wieder zurück ins Haus. Sie rief wieder an. Der Klingelton nahm allmählich einen hohlen, verzweifelten Klang an.
Es wurde vier Uhr, und er hatte immer noch nicht angerufen.
Sie rief Ahmad in Spanien an. Auch er hatte nichts von Zeitoun gehört. Er hatte den ganzen Tag versucht, im Claiborne-Haus jemanden zu erreichen, vergeblich.
Am späten Nachmittag kamen die Kinder zurück.
»Hat Dad angerufen?«, fragte Nademah.
»Noch nicht«, sagte Kathy. »Ich warte noch.«
Sie konnte sich noch ein paar Sekunden beherrschen, dann brach sie zusammen. Sie entschuldigte sich und rannte ins Gästezimmer. Sie wollte nicht, dass ihre Töchter sie so sahen.
Yuko kam herein und setzte sich zu Kathy aufs Bett. Es ist doch bloß ein Tag, sagte sie. Bloß ein Tag im Leben eines Mannes in einer Stadt, in der nichts mehr funktioniert. Bestimmt ruft er morgen an. Kathy riss sich zusammen, und sie beteten gemeinsam. Yuko hatte recht. Es war bloß ein Tag. Natürlich würde er morgen anrufen.
DONNERSTAG , 8. SEPTEMBER
Kathy erwachte wieder etwas zuversichtlicher. Vielleicht hatte ihr Mann einfach völlig vergessen anzurufen. Wahrscheinlich war er damit beschäftigt, irgendwelche Leute und Tiere und Häuser zu retten, und hatte bei alldem schlicht den Überblick verloren. Auf jeden Fall war Kathy fest entschlossen, für die Kinder eine tapfere Miene aufzusetzen. Sie machte ihnen Frühstück und gab sich ruhig und zufrieden. Sie spielte GameCube mit Zachary und schlug den Morgen mit verschiedenen Ablenkungen tot.
In regelmäßigen Abständen drückte sie die Wahlwiederholungstaste an Yukos Telefon. Das Telefon im Claiborne-Haus klingelte praktisch in Endlosschleife.
Zwölf Uhr kam und ging.
Kathy verlor langsam wieder die Fassung.
»Ich muss nach New Orleans«, erklärte sie Yuko.
»Nein, auf keinen Fall«, sagte Yuko. Sie bombardierte Kathy mit logistischen Fragen. Wie wollte sie in die Stadt gelangen? Hatte sie etwa vor, ein Boot zu kaufen, die Ordnungskräfte zu meiden und ihren Mann auf eigene Faust zu suchen? Yuko fand schon den Gedanken absurd.
»Wir wollen uns nicht auch noch um dich sorgen müssen.«
Ahmad rief Kathy an. Am Vortag war sein Ton noch neutral gewesen, aber jetzt klang er beunruhigt. Das verunsicherte Kathy noch mehr. Wenn Ahmad, aus demselben Holz geschnitzt wie ihr Mann – und beide aus demselben Holz geschnitzt wie ihr Vater Mahmoud, der zwei Tage auf hoher See an ein Fass geklammert überleben konnte –, die Lage als ernst einschätzte, dann hatte Kathy bislang sogar noch unterreagiert.
Ahmad sagte, er würde versuchen, Kontakt zu dem Fernsehsender aufzunehmen, der Zeitoun interviewt hatte. Er würde sich an sämtliche Behörden wenden, die nach Vermissten in New Orleans suchten. Er würde sich an die Küstenwache wenden. Sie vereinbarten, sich gegenseitig zu verständigen, sobald sie irgendwas hörten.
Datum: Do, 8. Sept. 2005, 19:08:04 +0200
An:
[email protected]Betreff: Ref. AMER-6G2TNL
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für Ihre Antwort.
Bitte versuchen Sie alles, um etwas über ihn zu erfahren. Er ist mein Bruder und lebt seit vielen Jahren in New Orleans: 4649 Dart St., New Orleans, LA, 70125-2716.
Ich selbst lebe in Spanien, aber seine Frau und seine Kinder sind einen Tag vor Katrina nach ARIZONA gefahren. Seine Frau: Mrs Kathy Zeitoun, derzeit erreichbar unter: 408-{Nummer ausgelassen}
Weitere Informationen:
Er hat sich ohne Telefonverbindung zu Hause aufgehalten, ist aber mit einem kleinen Boot jeden Tag zu Mr TODD gefahren, wohnhaft:
5010 S.