Zeitoun (German Edition)
Veterans Memorial Coliseum, einer Veranstaltungsarena, in der das Rote Kreuz eine Notunterkunft und Erste-Hilfe-Station für Menschen aus New Orleans eingerichtet hatte. Unterschiedliche Vermisstenorganisationen sammelten Informationen und versuchten, Menschen wieder mit ihren Familien in Kontakt zu bringen. Kathy hatte ein Foto von Zeitoun dabei und jede noch so kleine Information, die sie hatte finden können.
In der Halle bot sich ihnen ein furchtbares Bild. Es waren Dutzende Flüchtlinge aus New Orleans dort, die aussahen, als wären sie gerade erst eingetroffen. Verletzte wurden behandelt, Familien schliefen auf Feldbetten, überall lagen Kleiderberge herum. Kathys Töchter klammerten sich an ihr fest.
Das Rote Kreuz nahm alle Informationen über Zeitoun auf und scannte das Foto ein, das Kathy mitgebracht hatte. Die Mitarbeiter dort waren effizient und freundlich, und sie sagten Kathy, dass schon Tausende Menschen ausfindig gemacht worden waren, dass sie übers ganze Land verstreut waren und dass sich immer wieder die unglaublichsten Geschichten ereigneten. Sie sagten Kathy, sie solle sich keine Sorgen machen, dass mit jedem Tag ein weiteres Stückchen Ordnung in die Welt zurückkehre.
Kathy fasste neue Hoffnung. Vielleicht war er verletzt worden. Er könnte in irgendeinem Krankenhaus liegen, unter dem Einfluss starker Medikamente. Er könnte irgendwo gefunden worden sein, bewusstlos und ohne Ausweispapiere. Es war nur eine Frage der Zeit, bis irgendwelche Ärzte oder Krankenschwestern die Vermisstendatenbank durchsahen und dort auf ihn stießen.
Doch jetzt waren die Kinder durcheinander. War ihr Vater nun in Sicherheit oder nicht? Sie erhielten widersprüchliche Informationen. Kathy hatte ihnen gesagt, es ginge ihm gut, er wäre in seinem Kanu unterwegs. Aber warum meldete sie ihn dann beim Roten Kreuz? Warum die Vermisstenliste, warum die Erwähnung von Polizei und Küstenwache? Kathy versuchte, all das von ihnen fernzuhalten, aber es war unmöglich. Sie war nicht stark genug. Sie fühlte sich schwach, durchlässig.
Als sie wieder zu Hause waren, rief Kathy im Claiborne-Haus an. Sie ließ es endlos lange klingeln. Bislang hatte sie sich eingeredet, dass die Leitung vielleicht gestört war, aber jetzt fragte sie bei der Telefongesellschaft nach. Wenn ihr Ruf nicht durchginge, so sagte man ihr, müsste sie so etwas Ähnliches hören wie ein Besetztzeichen, ein besonderes Signal, das nur ertönte, wenn die Leitungen unterbrochen waren. Doch es klingelte am anderen Ende, und das bedeutete, dass das Telefon funktionierte, aber niemand da war, um dranzugehen.
Aisha verkraftete es am schlechtesten. Sie schien zwischen Angst und fatalistischer Resignation hin und her zu schwanken. Sie war reizbar. Sie konnte sich nicht konzentrieren. Sie zog sich zurück, um allein zu weinen.
Nachdem die anderen Kinder an dem Abend eingeschlafen waren, setzte sich Kathy hinter Aisha auf ihr Bett. Sie nahm das volle schwarze Haar ihrer Tochter in die Hände, massierte es mit der einen und bürstete es mit der anderen. Früher hatte sie das mit Nademah gemacht, damit sie vor dem Schlafengehen ruhiger wurde, und Yukos Mom hatte das Gleiche mit Kathy gemacht, wenn sie sie gebadet hatte. Es war wohltuend, meditativ, für die Mutter ebenso wie für die Tochter. Diesmal summte Kathy dabei eine Melodie, an deren Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte, und Aisha saß ganz still, angespannt, sträubte sich aber nicht. Kathy war zuversichtlich, dass es sie beruhigen würde, dass Aisha sich am Ende in Kathys Schoß sinken lassen würde, zufrieden und schläfrig.
»Hast du von ihm gehört?«, fragte Aisha.
»Nein, Kleines, noch nicht.«
»Ist er tot?«
»Nein, Kleines, er ist nicht tot.«
»Ist er ertrunken?«
»Nein.«
»Haben die seine Leiche gefunden?«
»Schätzchen, hör auf damit.«
Aber nach sechs oder sieben Bürstenstrichen schnappte Kathy nach Luft. Aisha fielen büschelweise Haare aus. Die Bürste war voll damit.
Aishas Augen wurden feucht. Kathy brach in Tränen aus.
Es gibt nichts Schlimmeres als das hier, dachte Kathy. Es kann nichts Schlimmeres geben.
SONNTAG , 11. SEPTEMBER
Sechs Tage waren vergangen, seit Kathy zuletzt mit Zeitoun gesprochen hatte. Sie konnte sich sein Schweigen nicht länger erklären. Es ergab keinen Sinn mehr. Es wimmelte von Hilfskräften in der Stadt. Die Nationalgarde war allgegenwärtig, und wie offizielle Stellen verlautbarten, war die Stadt praktisch menschenleer.
Wieder ging sie
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