Zeitriss: Thriller (German Edition)
schuld an den Übeln, die uns alle umgeben. Und darum bin ich hier. Ihr werdet mein Heer sein. Ihr alle.« Er deutete mit ausholender Geste auf die umstehenden Krieger. »Ihr habt zwei deutsche Missionare getötet. Das soll nur der Anfang sein. Ich bin nicht hier, um euch dafür zu maßregeln; ich bin hier, um euch zu danken. Und von nun an werden wir gemeinsam jeden weißen Mann und jeden Japaner in China töten. Jeden Missionar, jeden Geschäftsmann, jede Frau aus dem Abendland.«
Li Tang lachte unwillkürlich. »Das ist unmöglich.«
»Ich kann euch alle unverwundbar machen!«, rief Randall. »Schwerter werden euch nicht schneiden, Kugeln nicht durchdringen. Mit dieser geheimnisvollen, alten Macht können wir zusammen die Welt regieren!«
Zum Zeichen der Respektverweigerung kehrte Li Tang dem blauäugigen Chinesen den Rücken zu, fuhr dann aber heftig herum. »Warum kommt Ihr hierher?«, verlangte er zu wissen. »Warum zu uns? Ihr habt das kaiserliche Heer. Ein Heer, das nicht einmal die kleinen gelben Angreifer im Norden schlagen kann«, schloss er lachend.
Randall gab die Zen-Haltung auf. Der beißende Spott konnte ihn nicht beeindrucken, zumal er zu erwarten gewesen war. »Das ist nicht mein Heer«, erwiderte er mürrisch. »Die Generäle sind korrupt. Sie gehorchen nicht. Ihre Niederlage in der Mandschurei ist meine Art, ihnen eine Lehre zu erteilen. Ich gewähre dem kaiserlichen Heer keine Hilfe – nicht die geringste.«
Li Tang zeigte auf ihn. »Ihr tragt die kaiserlichen Gewänder, seid aber nicht Kuang Hsu, der Sohn des Himmels.«
Der fünfklauige Drache, das Zeichen kaiserlicher Macht, wurde nur vom Kaiser selbst oder von seiner Gemahlin getragen. Jedem anderen war dies bei Todesstrafe verboten.
»Über China herrscht nicht mehr Kuang Hsu, sondern ich.«
»Und wer seid Ihr?«, fragte Li Tang.
»Ich bin der Geliebte und Meister der Kaiserinwitwe Cixi, der Regentin von China und Göttin des Reichs der Mitte.« Er hob die Stimme. »Als ihr Meister biete ich euch Ruhm und ewigen Sieg über die abendländischen Invasoren! Ich biete jedem von euch die Schulung zur Unverwundbarkeit an. Gemeinsam können wir unser Volk von den fremden Teufeln befreien!«
»Einen Pfeil zu fangen ist eine Sache«, meinte Li Tang ärgerlich. »Wer Unverwundbarkeit anbietet, muss einen Beweis liefern.« Ohne den Blauäugigen aus den Augen zu lassen, wich er zurück und nahm einem seiner Leute ein Krag-Jørgensen-Gewehr aus der Hand. Er legte auf den Fremden an und zielte auf den Drachen.
Randall nahm Kampfhaltung an, bewegte rhythmisch-fließend die Hände und stieß langsam und lange den Atem aus.
Das Gewehr feuerte.
Die Kugel pfiff über den Platz.
Randall erfasste sie mühelos mit einem Blick und hob die rechte Hand. Die Kugel traf die Handfläche. Er spürte keinen Schmerz, nur das Abprallen auf der Haut. Dann fiel das heiße Bleigeschoss zu Boden, wo es zischend im Schnee landete.
Randall zeigte den Männern die Handfläche.
Die Haut war nicht einmal gerötet.
Die Kämpfer sperrten verwundert den Mund auf. Einer nach dem anderen fielen sie vor dem leibhaftigen Gott auf die Knie. Nur Li Tang blieb stehen und starrte ihn verblüfft an.
Randall sah ihn an und legte die Hände ineinander. »Du darfst knien, junger Krieger. Du hast dich gut geschlagen.«
Randall fühlte sich sehr an seine erste Begegnung mit Lord Elgin erinnert, die nun achtunddreißig Jahre zurücklag. Doch er fühlte sich so viel machtvoller als damals. Erheblich machtvoller. Er war in der Tat ein leibhaftiger Gott – ein Mann, der in fast vierzig Jahren keinen Tag gealtert war.
»Mit der richtigen Schulung«, rief er, »könnt ihr genauso unverwundbar sein! Gemeinsam können wir China von den fremden Teufeln und ihrem stinkenden Einfluss befreien. Ihr werdet alle von meiner Hand geführt. Ihr sollt nicht mehr Gesellschaft der Großen Schwerter heißen; von heute an werdet ihr als Yi Ho Tuan bekannt sein: in Rechtschaffenheit vereinigte Boxer. Für euch, meine Boxer, habe ich keinen Namen, sondern heiße nur der Meister. So werdet ihr mich nennen.«
In der Ruine der Festung Shantung war Randalls sanfter Schlummer endlich zu einem Ende gekommen. Er war aus seinem Leben ausufernden Vergnügens erwacht und hatte China in einem Albtraum vorgefunden. Es war Zeit, die Dinge in die Hand zu nehmen und Asien zu unterwerfen, zum Wohle des Reiches. Die Welt war sein, und er würde vor nichts haltmachen, bis er seine Ziele erreicht hätte. Die Geschichte
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