Zeitriss: Thriller (German Edition)
Palast beträchtlichen Einfluss hatten. Wegen ihrer hohen Stimme und ihres opportunistischen Verhaltens nannte man sie die Krähen.
Cixi schwieg seit einer Weile. Aus den Räucherschalen stiegen feine Weihrauchkringel in die reglose Luft auf. Schließlich sagte Li Lien in die Stille hinein: »Unsere Spione haben den Verräter an Lord Elgins Seite ausgemacht. Er ist kein alltäglicher Mann, sondern auf den ersten Blick zu erkennen.«
»Und woran?«, fragte Cixi und stellte sich ein narbiges oder entstelltes Gesicht vor.
»An den blauen Augen«, antwortete Li Lien.
Seine Gebieterin richtete ihren brennenden Blick auf ihn. »Sie sind blau?«
»So viel steht fest. Er ist ein Chinese mit blauen Augen.«
»Weißt du das gewiss?«
»Ja, Edle Kaiserliche Gemahlin. Vollkommen.«
Ein Chinese mit blauen Augen war eine unvorstellbare Erscheinung. »Ich habe dergleichen noch nie gehört«, sagte sie verwundert. Li Lien sagte zweifellos die Wahrheit – ein Irrtum bei solch einem bedeutenden Detail wäre ein Grund zur Enthauptung und für sie eine Peinlichkeit. »Ist er eine Art Albino?«
»Nein. Seine Hautfarbe ist normal und seine Statur kräftig.«
Cixi blickte an die kunstvolle Decke ihres Palastes. »An diesem blauäugigen Teufel verblüfft mich alles. Er ist wie aus dem Nichts gekommen. Sein Wissen über unsere Streitkräfte und Strategie ist umfassend. Seine Einschätzung unserer ehrwürdigsten Generäle sogar noch besser. Es ist geradezu, als könnte er in die Zukunft blicken«, sagte sie bestimmt. »Er kann sehen, was wir als Nächstes tun. Dieser Mann, ich muss seinen Namen erfahren!«, rief sie. »Wir waren siegreich, bis er der Dunkelheit entstieg!«
Li Lien erwiderte ruhig: »Der Blauäugige ist bewandert und schwer zu fassen. Und ich habe weitere schlechte Nachrichten. Der erste Bericht über ihn kam vor fünf Monaten. Die Palastwache meldete einen Mann mit blauen Augen in Bettlerkleidung in der Verbotenen Stadt. Doch nachdem man ihn in die Enge getrieben hatte, verschwand er in die Dunkelheit wie ein Geist, indem er sich von der Mauer stürzte – ein Sprung in den Wassergraben, den man unmöglich überleben kann. Darum habe ich den Vorfall zunächst als ein täuschendes Spiel der Schatten abgetan. Doch Spione aus Dalian haben bestätigt, dass es den Blauäugigen gibt. Es heißt, dass die Briten und Franzosen ihn mit größter Achtung behandeln und dass er sich an Lord Elgins Seite aufhält.«
»An Elgins Seite?« Cixis Verwunderung wuchs. Seit dem vorigen Opiumkrieg war die Lage nicht mehr so ernst gewesen. Das waren Umstände, die die kaiserliche Herrschaft in den Grundfesten erschütterten.
Cixi dachte über die schwindende Stärke ihres Gemahls nach und wusste, dass es an ihr war, die richtige Entscheidung zu treffen. Mit seiner Gesundheit hatte der Sohn des Himmels auch seine Kühnheit verloren, und damit lag die Macht über die kommenden Entscheidungen bei seinen Ratgebern.
Sie sind allesamt korrupte Narren, entschied Cixi im Stillen.
Sie glitt wie ein Hai unter Beutetieren an den drei Halbmännern vorbei, die in starrer Verbeugung ausharrten.
Lord Elgin hegte eine wohl bekannte Abneigung gegen Chinesen, und Cixi schloss daraus, dass der Blauäugige viel zu bieten haben musste, um solche Voreingenommenheit beiseiteschieben zu können.
»Du wirst den Namen des Mannes aufdecken«, sagte Cixi in freundlichem Ton. »Ich muss meinen Gegner kennen. Und wenn er Familie oder eine Geliebte hat, können wir die als Hebel benutzen.« Kurz schwieg sie. »Mein Gemahl ist schwach, das weißt du. Seine Feigheit schmerzt mich.« Wieder schwieg sie für einen Moment. »Ich brauche Verbündete, um das Reich zu schützen. Die Briten haben Dalian an der Einfahrt zu diesem Küstenstrich eingenommen, und mit Hilfe ihrer Geheimwaffe – dem Blauäugigen – werden sie sicherlich bis Tientsin fahren. Wenn sie dort siegen, werden sie auf Peking marschieren und bald vor den Toren des Palastes stehen.« Sie rieb ihre glatten eleganten Hände. »Wie lautet dein Rat, Li Lien?«
Er überlegte, dann sagte er: »Wir müssen ausländische Geschütze erwerben, um unsere Festungen bei Taku zu verteidigen«, antwortete er.
»Und wie soll das möglich sein?«, fragte sie.
»Die Russen fordern seit Langem, dass wir ihnen das linke Ufer des Amurs überlassen. Sie suchen einen Hafen, der im Winter nicht zufriert. Ohne ihn haben sie keinen Zugang zum Pazifik, wenn sie ihn am meisten brauchen. Wir können dadurch zweierlei
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