Zeitriss: Thriller (German Edition)
großartiger Sieg«, räumte Randall ein. Doch er war traurig angesichts der Gefallenen, und seine Nerven lagen blank, weil Senggerinchin nicht angegriffen hatte. Wäre alles nach Plan verlaufen, hätte er seine Tataren in den Kampf geschickt. Stattdessen hatte er sich zurückgezogen. Die Geschichte war von ihrem vorbestimmten Verlauf abgewichen. Eine neue Ordnung hatte sich durchgesetzt, und Randall konnte die Auswirkungen nicht erahnen. Senggerinchin hätte vor zwei Stunden in die Schlacht reiten und nunmehr tot bei den anderen armen Seelen liegen sollen, die darauf warteten, im Schlickwatt des Haihe begraben zu werden. Doch er war noch am Leben.
Randall dachte an Wilsons Rat: Setzen Sie nie voraus, dass die Geschichte festgelegt ist. So sehr er sich zu beruhigen versuchte, er lag mit sich im Streit wegen seines augenscheinlichen Versagens. Noch zwei Stunden zuvor war er Herr über die großen Ereignisse gewesen, die rings um ihn stattfanden, jetzt schien er nur noch Zuschauer zu sein. Statt seiner war es Senggerinchin, der den Lauf der Geschichte verändert und Randall dabei die Kontrolle über den zweiten Opiumkrieg entrissen hatte. Es war Zeit, sorgfältig nachzudenken, entschied Randall, und sich einen Plan zurechtzulegen, wie er das Heft wieder in die Hand bekäme. Als Sir Hope Grant mit seinen Soldaten in Senggerinchins Falle getappt war, hatte Randall den Fehler korrigieren und die Geschichte wieder in ihre Bahn lenken können. Dies würde er jetzt noch einmal tun müssen. Eines war sicher: Der Mongolenprinz musste während dieses Krieges fallen. Er war ein zu guter Feldherr. Er sei ein kritischer Charakter in der chinesischen Geschichte, hatte Wilson bemerkt – was sich nun auf besondere Weise bewahrheitete.
»Ihre Haubitzen müssen neu in Stellung gebracht und auf die Zhen-Festung gerichtet werden«, erklärte Randall selbstsicher, »aber ohne einen Schuss abzugeben. Die Qing sollen glauben, dass Sie es nicht nötig haben, Ihre Überlegenheit zu beweisen.«
Lord Elgins Hochgefühl überlagerte vorübergehend seine Abneigung gegen den chinesischen Berater. »Gehen wir auf den Wehrturm und besprechen unsere Pläne«, sagte er liebenswürdig. Er genoss das Bewusstsein, die schmachvolle Niederlage seines Bruders und des Admirals endlich gerächt zu haben. Die Ehre und der Ruf der Bruces waren wiederhergestellt, und vor allem hatte er seinen eigenen Ruf als größter Stratege des Britischen Empires untermauert.
»Wann werden wir die anderen Forts angreifen?«, fragte Parkes, der gerade seine Schuhe inspiziert hatte und von seinem Stuhl aufstand.
»Sie werden in den nächsten Stunden kapitulieren«, antwortete Randall. In Wirklichkeit war er gar nicht sicher, was als Nächstes passieren würde, musste aber annehmen, dass sich die Ereignisse mehr oder weniger an den Plan der Geschichte halten würden.
»Sie glauben nicht, dass sie kämpfen werden?«, fragte Elgin.
»Ihr Kampfgeist ist gebrochen«, meinte Randall.
Parkes stieß mehrmals ein Streichholz gegen die Reibfläche der Schachtel, bis es aufflammte, und hielt es an die Pfeife. Langsam quoll Rauch von seinen schmalen Lippen, stieg unter der Plane auf und zog in den Regen hinaus. »Wenn Verhandlungen nötig sind, stehe ich zur Verfügung«, bot er stolz an.
Lord Elgin betrachtete seine Stiefel und deutete mit seinem dicken Zeigefinger auf einen Fleck an der Spitze, der seiner Ansicht nach noch Wachs und Politur benötigte. »Ein bisschen mehr Mühe!«, verlangte er ärgerlich, was von Parkes sogleich ins Kantonesische übersetzt wurde. Die beiden Kulis, die aus Hongkong stammten, rieben über die Stiefelspitzen, als hinge ihr Leben davon ab. Elgin lehnte sich derweil zurück und sah Randall lächelnd ins Gesicht. »Ich bin sehr zufrieden mit Ihrer Beratung, Mr. Chen. Durch diesen großartigen Sieg haben Sie meine hohen Erwartungen sogar noch übertroffen.«
»Es sind Ihre tapferen Soldaten, die den Sieg errungen haben«, erwiderte Randall.
Das waren genau die Worte, die Elgin hören wollte.
Sobald seine Stiefel zur Zufriedenheit geputzt waren, stand er auf, zog seinen schweren Mantel an, trank einen Schluck aus seiner silbernen Taschenflasche und stieg von der Zugbrücke in den knöcheltiefen Schlamm des Torwegs. »Kommen Sie … lassen Sie uns sehen, was wir zusammen erreicht haben.« Unter den Regenschirmen ihrer Kulis und mit vorsichtigen Schritten begaben sich die drei Männer ins Innere der Festung.
Es bot sich ein grausiger Anblick.
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