Zeitriss: Thriller (German Edition)
zurückschlagen.
Nach über einer Stunde erbitterten Kampfes schaffte es ein französischer Soldat auf die Artillerieplattform und schnitt die Qing-Flagge herunter. Doch gerade als er die Trikolore hissen wollte, traf ihn eine Kugel – eine britische, wurde gemunkelt –, und er war auf der Stelle tot. Ab diesem Moment, als die Briten sahen, wie leicht ihnen der Sieg entrissen werden konnte, verdoppelten sie ihre Anstrengung und gewannen die Oberhand. Nach fünfzehn Minuten flatterte der Union Jack über der Wei-Festung, und der Sieg gehörte Lord Elgins Truppen.
Sir Hope Grant wischte seinen Säbel an der Qing-Flagge sauber und warf sie einem seiner Sergeants zu, damit er sie sorgfältig aufbewahrte. Sie sollte eine seiner vielen Schlachttrophäen werden. Das Blut, das jetzt daran klebte, ließ sie umso dramatischer wirken – und die jungen Damen, das wusste er, würden bei ihrem Anblick weich in den Knien.
»Damit ist der zweite Opiumkrieg vorbei«, meinte Sir Hope stolz.
Doch das war ein Irrtum. Er hatte gerade erst begonnen.
12.
Wei-Festung
1600 Meter östlich von Taku, China
21. August 1860
Ortszeit: 11.15 Uhr
Unternehmen Esra – Tag 171
Wie auf ein Stichwort setzte um Viertel nach elf ein starker Regen ein. Zu Hunderten schleppten die Kulis Leichen aus dem Fort und stapelten sie jenseits der Gräben zum eiligen Begräbnis auf. Bei dem feuchtheißen Wetter konnten sich Krankheiten rasend schnell ausbreiten, und je eher die Toten außerhalb der Mauern waren, desto besser. Es gab zweitausend tote Qing-Soldaten und etliche Hundert gefallene Mongolenkrieger des Schwarzen Horqin-Banners. Kein Soldat, der in der Festung postiert gewesen war, atmete noch. Die Beschützer des Reichs der Mitte hatten, wie befohlen, bis zum letzten Mann gekämpft.
In all den Jahren auf dem Schlachtfeld hatte Sir Hope noch keine solche Verbissenheit erlebt. Die Chinesen waren zumeist nicht berühmt für Tapferkeit, doch bei näherem Hinsehen zeigte sich der Grund, warum es diesmal anders gewesen war. Ihre Anführer hatten die eigenen Leute in den Mauern verbarrikadiert, und angesichts der vielen Enthaupteten unter den Feinden schloss Sir Hope, dass jeder, der Furcht zeigte oder versuchte, seinen Posten zu verlassen, zur »Ermutigung« der Übrigen getötet worden war.
Für die Verbündeten war das ein entscheidender Sieg. Die Festung Wei, die »Mächtige«, war mit dem Verlust von nur 201 britischen und 158 französischen Soldaten eingenommen worden. Der Feind hatte mindestens sechsmal so hohe Verluste. Unter normalen Umständen hätte es sich umgekehrt verhalten. Die Qing waren in der überlegenen Position gewesen, ihre Verteidigungsanlagen stark und sie selbst in der Überzahl. Verloren hatten sie dennoch.
Lord Elgin hätte nicht glücklicher sein können. Ihn erfüllte ein solches Hochgefühl, dass er eine Stunde lang durch knietiefen Morast watete, um zum Eingang der Festung zu gelangen, die er für Königin Victoria erobert hatte. Nun saßen er und Harry Parkes in den Louis-Seize-Lehnstühlen unter einer Canvasplane auf der Zugbrücke. Vor ihnen knieten vier Kulis, die ihnen eifrig den Schmutz von den Stiefeln schabten und das Leder polierten, bis es glänzte. Lord Elgin schwitzte noch mehr als gewöhnlich und hatte den schwarzen Wollmantel ausgezogen. Sein weißes Rüschenhemd war schweißnass. Sobald er sich ausgeruht hätte, wollte er sich den Uniformrock mit den Orden überziehen und den großen Auftritt inszenieren.
Randall Chen hatte Herzklopfen. Zum ersten Mal seit seiner Ankunft in der Vergangenheit fühlte er sich völlig überfordert. Er wischte sich mit einem dunklen Lappen den Schmutz von den Schuhen und ging auf das Tor zu. Senggerinchin hätte mit seiner Kavallerie angreifen müssen, war jedoch mit seinen Leuten nach Tientsin geflohen. Es schien, als hätte der Mongolenprinz Gedanken lesen können und gewusst, dass er beim Angriff in eine Falle geraten wäre.
»Wir haben für Königin und Vaterland gesiegt«, sagte Lord Elgin lächelnd.
Randall schaute angewidert zu den Leichenhaufen, die keine hundert Schritte entfernt aufgetürmt wurden. Das Regenwasser, das an ihnen herunterlief, färbte sich rot vom Blut der Menschen, die die Festung verteidigt hatten. Fünfzig Kulis gruben mit Schaufeln in der nassen Erde, während zwei Sergeants der königlichen Pioniere ihnen Befehle zubrüllten, schneller zu arbeiten, da die Gräber sich unter der hereinkommenden Flut bereits mit Wasser füllten.
»Ein
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