Zementfasern - Roman
wenn sie allein war.
Die ganze Nacht lang war sie mit der Prozession gegangen, die Alessano mit Leuca verband. Elf Kilometer Fußweg, dem Frieden und der zum Himmel Aufgefahrenen zu Ehren, in der Nacht zwischen dem 13. und dem 14. August, wenn der Himmel von Sternschnuppen und den Feuerwerken der mariengläubigen Gemeinden brennt. Die Zeremonie war eine Idee von Don Tonino Bello. Mimi hatte den Priester vor ein paar Jahren in einem Innenhof von Alessano kennengelernt, der kleinen Gemeinde mit jahrtausendealten Mühlen zum Brechen der Steine zwischen Tricase und dem Ionischen Meer.
Mimi hatte früher nie an dem Ritus teilgenommen, die ganze Nacht lang ohne Unterbrechung mit einer Fackel in der Hand zu wandern, war ihr immer als ein fanatischer Wahnsinn erschienen, doch vieles, was in den letzten Jahren passiert war, hatte sie mit einem Leben versöhnt, das nicht ihres gewesen war. Die Väter in ihrem Heimatort waren krank geworden und starben. Annas Vater, Teresas Vater, der Mann einer Nachbarin. Man konnte seine Knochen zählen, wenn er in Novaglie auf den Klippen stand.
Vielleicht waren es nur Zufälle. Ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände. Aber Mimi sah darin eine Logik, und sie spürte, dass sie ihr entglitten war und sie sich diese Logik jetzt wieder aneignen musste. Die Männer hatten alle in Fabriken in Deutschland, der Schweiz oder im Norden gearbeitet. Bei vielen war es um Asbest gegangen, bei anderen um Rauch in Eisenhütten, Kohle, außerdem chemische Substanzen, Acetylen, Helium, Gas. Jeder dieser Einwohner von Tricase, Corsano, Acquarica, Presicce, Gagliano, Novaglie und Tiggiano hatte seinen Beitrag zum Fortschritt und zu großen Leistungen der Industrie erbracht. Und sein Beitrag waren ein ausgezehrter Körper, ein kurzer Atem und erloschene Augen.
Mimi war überzeugt, dass alles, was sie erlebte, durch die Tragödien intensiver wurde. Wenn die Jungen im Ort etwas sehr dringend erledigen mussten und ihre Eile mit Angst gewürzt war, benutzten sie einen Dialektausdruck, den sie auch für sich passend fand: »Ich habe Pfeffer im Herzen.«
Es war nur ein unglückliches Schicksal, zugegeben, denn für etwas anderes gab es keine Beweise, aber Mimi sah in einer Gemeinde, die bald nur noch aus Witwen und Waisen bestehen würde, ein Zeichen. Es war, als wäre das Alter, die erfüllteste Zeit des Lebens, nur noch einem Teil der Menschheit vorbehalten. Ein frühzeitiger, qualvoller Tod für die Männer, noch bevor sie sechzig wurden, für die Frauen mehrere Jahrzehnte Einsamkeit. Gegen sie musste Mimi aufbegehren, das fühlte sie.
Ein Fluch? Vielleicht nur ein Opfer, wie die Kriege, wie die Emigration: Für einen geopferten Vater gibt es immer einen geretteten Sohn.
In Mimi wuchs das Bedürfnis, sich keinen einzigen Krümel des Lebens entgehen zu lassen, jedes Gefühl bis auf den Grund zu erforschen. Das Städtchen der sterbenden Emigranten war für viele eine bloße Aufeinanderfolge von Ereignissen, der normale Gang des Lebenszyklus, doch ein mitfühlendes oder empfindsames Wesen hat keinen Schutzpanzer für die Seele. Entscheiden. Wenn man sich nicht entscheidet, siegen die Konventionen, die verhärteten Gewohnheiten. Mit dem Strom schwimmen. Aber macht es denn Spaß, sich einfach mitziehen zu lassen? Für Mimi bedeutete das Leben, gegen die Strömung zu schwimmen. Befriedigung lag in dem Weg, den man gegen den Lauf der Ereignisse zurückgelegt hatte.
Während des Pilgerzugs, der die ganze Nacht dauerte, war sie neben einem Mann hergegangen, der nach Milch und Agaven roch, er war einer der engsten Freunde von Don Tonino gewesen. Er ähnelte ihm sogar, dunkle Haut, das eckige Gesicht und die lebhaften Augen. Er hatte ihr von Don Toninos Reise nach Sarajevo erzählt.
Es war eine Nacht im Dezember, fünfhundert Pilger, angeführt von dem Priester aus dem Salento, landeten in Dalmatien und erreichten Sarajevo zu Fuß, unter dem Beschuss der Heckenschützen, die nie eine Feuerpause machten.
»Es war sehr neblig«, erzählte er, »ein dichter gelblicher Dunst, der nur wenige Stunden andauerte. Er hat uns gerettet.«
Der »Mariennebel«, wie das Wunder getauft wurde, ermöglichte ihnen, Lebensmittel und Medikamente in die Stadt zu bringen und unversehrt zurückzukehren, um von dem Unternehmen zu erzählen.
Wer weiß, ob es wirklich so gewesen war, aber die Leidenschaft, mit der der Mann den Nebel beschrieb, der sich über die Expedition senkte, um sie auf ihrem Weg zu beschützen, begeisterte
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