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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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Mimi.
    Ihm fehlte jeder sinnliche Reiz, dennoch spürte Mimi, dass sie dem Mann einen Kuss schenken musste, einen langen Kuss, der seine Wünsche erfüllte wie eine Liebesnacht. Bevor sie es sich anders überlegte, griff sie ihm mit beiden Händen ins Haar, und drang, als sie ihre Lippen auf seine fremden Lippen legte, in seinen Mund und seinen Kopf ein. In der Kehle spürte sie den starken Geschmack von Blut und Säure, jene Mischung, die die Aufregung am Gaumen bildet. Dann, der Mann war noch immer starr vor Staunen, dankbar fast, wurde er von der Verwirrung der Menge und der Dunkelheit davongetragen, Mimi war allein und blieb in dem kleinen Turm, um dem Meer zu lauschen und über die vergangene Nacht nachzugrübeln.
    Wenige Meter entfernt ging ein anderer Mann im dunklen Anzug, mit gelöster Krawatte und weißem Hemd barfuß über den Strand von Leuca, er suchte etwas oder jemanden.
    Er suchte Mimi. Versuchte, sie auf dem Mobiltelefon anzurufen, das er ihr vor wenigen Wochen geschenkt hatte, aber noch vergaß sie es, ließ es ausgeschaltet liegen.
    Gerne hätte er »Mimi!« gerufen, aber er schämte sich, noch wusste er nicht, dass er sie wegen dieser Zurückhaltung verlieren würde.
    Er war ein Anwalt aus Lecce. Die ganze Nacht hatte er im Yachtclub auf der Mole getanzt, bei Tagesanbruch wollten die beiden sich treffen. »Du findest mich am Strand«, hatte Mimi gesagt. Die sandige Bucht von Leuca ist klein, nur wenige Meter lang, man braucht fünf Minuten, um sie abzuschreiten. Wenn er den Mut gehabt hätte, laut nach ihr zu rufen, hätte er sie gefunden, Mimi wusste das.
    Das Meer war mit einer Decke aus winzigen Lichtern bestickt, das Glitzern der aufgehenden Sonne, der Schatten lief an der Wasserlinie entlang, der Mann blieb stumm. Er rief sie nicht, ihm fehlte der Atem und vielleicht der Mut.
    Und wieder war eine Geschichte beendet.

»Wie, du hast ihn verlassen, bloß weil er um fünf Uhr morgens nicht ›Mimi, Mimi!‹ gerufen hat?«
    »
Lampu
, Wahnsinn, das gibt’s doch nicht, du spinnst ja!«
    Anna und Teresa machten Mimi den Prozess wegen ihrer jüngsten Verrücktheit. Hocherhobenen Hauptes stand sie vor dem dampfenden Kaffee, den bestürzten Gesichtern der Freundinnen.
    Einen Mann sitzenlassen, der keinen Ton rausgebracht hat.
    Das war Mimi.
    Im Mechanismus ihrer Gefühle gab es Verärgerungen mit komplizierten Funktionsweisen. Stolz, Scham, doch auch Hingabe und Dreistigkeit, wenn sie notwendig war.
    Nur wer sie liebte, konnte verstehen, dass der Widerspruch ihr Wesen war.
    Sie hatte nicht die geringste Absicht, sich zu ändern, um ihren Liebhabern zu gefallen. Sie hatte nicht die geringste Absicht, auf ihre Gespenster zu verzichten, auf ihre ganz persönlichen weltlichen Gebete, ihre eingebildeten Leben und ihre Verstecke.
    »Der Anwalt hat keinen Mumm, wenn er sich wegen einer so kleinen Sache schämt, da vergeht mir die Lust, mit so einem zusammen zu sein.«
    Diese Prozesse durch Anna und Teresa waren ein festes Ritual der Sonntagnachmittage und fanden bei Mimi zu Hause statt, weil Annas Mann dagegen war, dass seine Frau Umgang mit »chidda paccia«, dieser Verrückten, hatte. Wer weiß, welche Ideen eine verbreiten konnte, die ihr Kind ohne einen Ehemann aufgezogen hatte, und ohne einen einzigen Arbeitstag zu versäumen. Eine, die sich in so jungen Jahren in der Schweiz hatte schwängern lassen und hier im Ort mit ständig wechselnden Männern ausging.
    Mimi war eine Frau, über die geredet wurde. Wer sie kannte, fragte sich, ob sie eine großzügige oder schlechte Mutter war, ob das Maß ihrer Fürsorge für Arianna ausgereicht hatte, ob ihre Tochter demnach wirklich Medizin an der Universität in Rom studierte, ob sie zu viel mit sich selbst sprach, ob sie oft mit Männern ausging und wer diese Männer waren, wie sie waren.
    Ob, ob und ob und nochmal ob.

Der Anwalt, dem Mimi den Laufpass gegeben hatte, war ein sehr bekannter Mann in Lecce. Er hatte es sogar auf die erste Seite des Lokalblatts geschafft, weil er sich vorgenommen hatte, die Familien der Schiffbrüchigen von einem Schiff mit kurdischen Auswanderern, das von der Marine gerammt und versenkt worden war, kostenlos zu verteidigen. Der allseits bewunderte und liebenswürdige Genussmensch mit mysteriösem Lebenswandel und pittoresken Rasta-Locken hatte für seine Großzügigkeit viel Lob bekommen, vor allem aber hatte er die begehrenswerteste Frau des Salento erobert, Mimi Orlando.
    Die beiden hatten sich vor einigen Monaten auf einem

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