Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
Vom Netzwerk:
aus hartem Zement lief, der ihn von der Schlucht der dampfenden Güsse trennte. Die Stimmen waren die seiner Freunde unten im Graben oder im silbernen Lichtschein der Morgenröten im Umkleideraum oder bei ihren schleppenden Gesprächen während der Abenddämmerungen im Neonlicht. Die Stimmen waren aber auch dieselben wie die Stimmen an einem Tag, den er nicht vergessen konnte. Es gibt kein Heilmittel gegen das Gedächtnis, damit es die unangenehmsten Erinnerungen in einem Abgrund verschwinden lässt und nur die besten Momente unseres Lebens hervorholt: den Duft frischer Tomaten, die in einem Holzkohleofen weich werden, die feuchte Erde am Ende des Sommers und die Feigen aus der Serra, die nach Jod, Salz und Nebel schmecken.
    In seinen schlaflosen Sommernächten durchlebte Ippazio immer wieder die Prügel: Er war zwanzig, trug sich mit dem Gedanken, die Fabrik zu verlassen, aus der Schweiz zu fliehen, in den Salento zurückzukehren und eine Werkstatt bei Tricase aufzumachen; seit einiger Zeit half er an seinem einzigen freien Tag in einer Karosseriewerkstatt aus. Er blieb bis zum späten Abend, bei gelöschtem Licht, der schwache Schein des einzigen Lämpchens ähnelte Friedhofslichtern. Eines Abends hatte er sich verspätet, in einem Lada hatte er den Sitz abgeschraubt, damit er liegend an der Lenkung arbeiten konnte. Da hörte er Stimmen in der Werkstatt, ein Gewirr unterschiedlicher Geräusche, umhüllt von einer Wolke aus Rascheln, Schlucken und Erregung. Von dieser Klangwolke sollte er noch jahrelang träumen. Die Besitzer des Wagens konnten es nicht sein, auch keine neuen Kunden. Es war zu spät, die Rollläden waren herabgelassen, die Lichter gelöscht; der Lärm, der nun folgte, war voll böser Absichten.
    Mimi hatte sich nur unter einem Bett verstecken müssen, um dem Rudel zu entkommen, aber sie wurde durch ihre magischen Kräfte beschützt. Sie konnte im Erdboden verschwinden, ins Land der Mütter und der eigenen Ursprünge zurückkehren. Mimi war entkommen, weil sie im sicheren Schoß ihrer Kindheitsgedanken versteckt war, wo die Welt der Träume, und sei es nur einen Augenblick lang, Wirklichkeit wird.
    Das Glas der Frontscheibe wurde zu einer Sturzflut winzig kleiner Teilchen, die sich auf Ippazios Rücken ergossen. Der Wirrwarr aus Worten verwandelte sich in unterscheidbare Stimmen gefährlicher Männer. Es waren Italiener. Sie suchten ihn. Wie ein Gepäckstück zogen sie ihn hervor, Ippazio leistete keinen Widerstand.
    Sie waren zu fünft, zu sechst, vielleicht sieben. Sie waren es. Seine Rächer. Die Männer, die er schon während der Zeit im Haus aus Glas gefürchtet hatte und die das Gedächtnis mittlerweile ins Vergessen zurückgedrängt hatte. Und gerade als sie verschwunden waren, waren sie wieder aufgetaucht, mit grimmigen Gesichtern, dunklen Hauttönen und blitzenden Raubtierzähnen.
    Wenn du nicht fliehen kannst, wenn sie von allen Seiten zuschlagen, kannst du nur aus einer Schicht ganz tief in deinem Inneren Kraft holen. Einer Schicht, die an die Saiten der Seele rührt und elementare Botschaften an deinen Verstand sendet, die dir jedoch helfen, die Schläge zu ertragen.
    In embryonaler Haltung vor den Autorädern liegend, das Gesicht gegen den Reifen gedrückt, den Körper angespannt, wiederholte Ippazio sich im Geist immer wieder: »Brust und Bauch bedecken«, »spann die Muskeln an«, »biete ihnen nicht die Weichteile«. Später kamen dann die verzweifelteren, vom Groll und Hass diktierten Botschaften an: »Sie werden alle vor mir sterben«, »ich werde sie alle einen nach dem anderen begraben«, »weine jetzt nicht, morgen wirst du wieder nach Hause gehen«.
    Seither waren viele Jahre vergangen.
    Noch immer hörte er das Zischen des Getuschels, das näher kommt, das lauter wird, bis es sich in den frechen Hinterhalt verwandelt. Franca, seine Freundin, schüttelte ihn im Schlaf, bot ihm eine einhüllende Umarmung, passte sich der Form seines Körpers an, dieselbe Beugung der Beine, legte ihre Möse an seinen Hintern und die Brüste an seinen Rücken. Hauchte ihm freundliche Worte zu.
    Franca war eine beeindruckende Frau, elsässisches Blut, aquamarinblaue Augen, lange Arme und ein kurzer Männerhaarschnitt. Als sie Ippazio kennenlernte, war sie eine junge Frau, die leerstehende Häuser besetzte, viel Marihuana rauchte, in London, Amsterdam und Paris gelebt hatte, aus einer sehr guten Familie kam, das Ergebnis eines großbürgerlichen Rebellentums, und die zur Vernunft gekommen war,

Weitere Kostenlose Bücher