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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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nachdem sie jede Art Drogen ausprobiert hatte. Ihr letzter Streich war gewesen, sich einen jungen Italiener mit dunklem Gesicht und Verletzungen von einer Schlägerei ins Haus und dann in ihr Leben zu holen.
    Sie begegnete Ippazio im Garten der Tagesklinik von Zürich. Mit dicken Verbänden, als hätte er eine Feuersbrunst überlebt, spazierte er auf eine Krücke gestützt allein über die Wiese. Sie hatte die Nacht im Wartesaal der Notaufnahme verbracht, ein Freund hatte einen Unfall gehabt, man behandelte seinen Knochenbruch, dann wurde der Gips angelegt; sie wartete und sah den einsamen Italiener, der vor sich hinpfiff. Sie beschloss, dass es angenehmer sei, mit jemandem zusammen zu warten, auch wenn es ein Italiener war.
    Widerspenstig war Ippazio nicht, aber er war auch keiner, der den ersten Schritt tat. Er war fünf Jahre alt, Freunde seiner Eltern waren mit ihrer Tochter gekommen, ein Jahr jünger als er, furchtbar schüchtern, verstörte Augen, und sie wurde Ippazio vorgestellt.
    »Pati, das ist Susanna«, sagten die Eltern in einem Schlafzimmer. Die beiden setzten sich auf die Steppdecke eines kleinen, mit Spitzentüchern geschmückten Betts. »Jetzt werdet ihr Freunde.« Und sie schlossen die Kinder ein.
    Es war Nachmittag. Susanna und Ippazio, einander schräg gegenüber sitzend, blieben schweigend bis zum Abend so sitzen und wichen auch den Blicken des anderen aus. Ein Schweigen und ein Warten, die nicht aufhören wollten.
    Freunde waren sie nicht geworden, als die Eltern zurückkamen, aber Verbündete. »Habt ihr Freundschaft geschlossen?« Beide nickten bejahend.
    So war Ippazio noch immer, zu jedem Bündnis bereit, um den Kern seiner Unabhängigkeit zu verteidigen. Sein plötzliches Verstummen, gewisse unergründliche Verfinsterungen, die manchmal in ein mürrisches Grollen mündeten, kennzeichneten seine Neigung: Ippazio wollte lernen. Deutsch sprechen, Gitarre spielen, singen, doch auch, er hätte es niemals zugegeben, lieben.
    Kurz darauf hatte er die Ternitti verlassen. Die wahren Gründe wurden nie erklärt. Franca fand die Entscheidung vernünftig, aber sie wusste auch, dass sich in diesem Mann nicht die Spur von Vernunft fand. Es war etwas anderes. Aber was? Sie ahnte es. Aber sie konnte es nicht einordnen. Wenn sie ihm eine direkte Frage stellte, drückte sich Ippazio, wich auf andere Geschichten, andere Anekdoten aus, die nichts damit zu tun hatten.
    »Warum haben sie nach dir gesucht?«
    »Eine alte Geschichte, als wir in der Schweiz ankamen.«
    »Geld?«
    »Ein alte Geschichte, basta. Ich will vergessen.«
    »Du hast gut daran getan, die Fabrik zu verlassen.«
    »Ich bin traurig.«
    »Aber da wärst du gestorben, Liebster.«
    »Ich wüsste wenigstens, woran ich gestorben wäre.«
    »Warum bist du weggegangen?«
    »Da drinnen hat niemand Angst, die kommt erst, wenn du draußen bist.«
    »Du antwortest mir nicht.«
    Ippazio folgte nur der Bahn seines ganz persönlichen Gedankengangs.
    »Erst wenn du draußen bist, kommen die Schmerzen, wenn du drüber nachdenkst, tut dir die Brust weh, und du fängst an zu niesen, bis du weinst. Manchmal sind die Tränen so salzig und dickflüssig, dass mir ist, als weinte ich Blut.«
    »Warum sagst du mir nicht die Wahrheit?«
    »Ich habe kein Blut mehr. Das ist die einzige Wahrheit.«

Die Sonne geht auf. Die Wellen sehen aus wie weiße Schnurrbärte, sie verpuffen, wenn sie ans Ufer schlagen. In der kleinen Sandbucht von Leuca leuchtet ein hellblauer und rosa Widerschein. Die mit Villen besetzten Hügel fallen steil zur Bucht ab, hier scheint das Meer Land gewonnen zu haben.
    Und dort ist sie, die Herrin der Verstecke, in einem Türmchen aus Stein, in dem die Damen früher geschützt vor aufdringlichen und plebejischen Blicken ein Bad nahmen, in diesem Wehr aus Kieselsteinen wenige Meter vor der Wasserlinie.
    Eine einsame Frau, die zu ihren Gespenstern betet.
    Ihr Kiefer ist fest geschlossen, bildet zwei scharfe Kanten, kleine Falten um die Augen, dunkle Schlitze nach einer schlaflosen Nacht. Schwarze Haare, locker nach hinten gebunden und mit unsichtbaren Klammern festgesteckt. Sie kniet mit der Ungezwungenheit eines Fakirs. Die Kniegelenke versinken im feuchten Sand. Sie versteckt sich, konzentriert sich, um den Stimmen zuzuhören und um ihre ferne himmlische Botschaft zu vernehmen.
    Für Mimi war es der ideale Ort für eine Begegnung mit ihren Vorfahren, das Meer donnerte gegen den Fels, keiner konnte sie sehen und keiner konnte sie sprechen hören,

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