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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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über dem Flussufer standen. Sie trafen sich dort, wo sie sich vor zehn Jahren zum letzten Mal gesehen hatten. Herr Thaur war so wie damals, aber er war auch erschütternd anders. Die Farbe, das Gewebe seiner Haut und sein Blick glichen dem Straßenpflaster, »dem Erdboden gleichgemacht«, fiel Ippazio ein. Sein nächster Gedanke, der sofort folgte, war ein klarer Entschluss. Den Anblick eines erloschenen, ausgetrockneten, dem Erdboden gleichgemachten Vope würde er nicht ertragen.
    Doch vielleicht schwirrte in der Ferne noch ein anderer Gedanke.
    Mimi Orlando saß mit all ihren Erinnerungen am Krankenbett seines Freundes, das wusste Ippazio, weil er die Seele seiner alten Freundin gut kannte, er kannte die anmutige Hingabe und Barmherzigkeit seiner Landsleute, wenn sie Sterbende begleiten.
    Sie war eines der wenigen Dinge, die er seinen Söhnen hätte beibringen wollen.
    Ippazio hatte zwei Jungen von Franca bekommen. Doch eben volljährig, waren sie verschwunden, einer hatte sich vom Heer anwerben lassen, der andere baute Häuser in den französischen Kantonen. Ippazio hatte sich nie wirklich als Vater gefühlt, und bevor er Kinder bekam, hatte er nie darüber nachgedacht, dass sie Neugeborene und Kleinkinder sein könnten, er hatte sie sich immer als Jugendliche vorgestellt. Von seinen Söhnen hatte er recht wenig gehabt, weil sie sich mit achtzehn Jahren in Luft aufgelöst hatten. Die Zeit war zu schnell vergangen, um ihnen zu erzählen, was er ihnen hätte erzählen wollen.

Wenige Jahre waren vergangen, seit Mimis Leben sich verändert hatte. Sie hatte sich einen Bruder ins Haus geholt, der in Gedanken in einer anderen Welt war, laut Einwohnerregister ein Mann und in der Seele ein Kind; sie hatte erlebt, dass ihre Tochter fortgegangen war, um zu studieren, und jedes Mal stärker verändert zurückzukommen, in den Gesichtszügen, dem Blick und in den Worten, im Tonfall. Manchmal erschien ihr Arianna sogar wie ein anderer Mensch.
    Biagino wurde nicht mehr vom alten Anchises-Antonio-Orlando nachts betrunken aufgelesen. Wenn er das Bewusstsein verlor und auf einer Bank auf der Piazza Pisanelli einschlief, wartete er ergeben, bis die Männer im grünen Anzug mit Silberstreifen, die Angestellten der Müllabfuhr, ihn einsammelten wie einen Müllsack.
    Antonio Orlando war in einem Sommer gestorben, ein Jahr lang vielleicht hatte er das Mesotheliom in sich getragen, doch als er die Agonie seiner Leidensgefährten im Krankenhaus sah, hatte er beschlossen, es den Pottwalen gleichzutun, jenen weißen Säugetieren, die kurz vor ihrem Tod aufhören, gegen die Wellen zu kämpfen, um sich von der Strömung ans Ufer tragen zu lassen, wo sie stranden wie leere Muschelschalen. Von März bis August verlor Antonio Orlando die Stimme, er hustete Blut, seine Haut wurde gelblich, und mit wissenschaftlich präzisem Sinn für das Unvermeidliche erwartete er das große Ufer.
    Rosanna blieb allein zurück, und alle Frauen im Ort fragten, warum sie nicht zu Mimi zog. Rosanna wechselte das Thema, blickte ihre Gesprächspartner an, und dann hob sie die Augen mit dem Ausdruck des Menschen, der einem vom Himmel gefallenen Schicksal folgt.
    Mimi bedrückten die Gärten, durch die sie nicht gegangen war und die immer zu weit weg waren, um noch einmal besucht zu werden.
    Wenn sie jetzt durch unbekannte Gärten ging, genoss sie deren Fülle, als wäre jedes erste Mal auch das letzte.
    »Einen so jungen Mann küsst eine Frau in deinem Alter nicht«, hätte Mama Rosanna gesagt, wenn sie Mimis neuesten Liebhaber gesehen hätte, einen Arbeiter, der wenig älter war als Arianna.
    Der junge Arbeiter war dafür zuständig, Pannen in der Krawattenfabrik zu beheben. Jeden Tag stieg er auf die Ternitti, das Dach, indem er am Rauchfang emporkletterte oder an dem Gerüst, das schon seit jeher die Fassade der Fabrik verbarg. Mimi hätte es nie zugegeben, aber der junge Arbeiter, der sich mit katzenhaften Bewegungen am Mauerwerk hochhievte, erweckte ihr ein Bild zu neuem Leben, das in den dunkelsten Stollen ihres Gedächtnisses begraben gewesen war. Vor einem Streichholz, das nur wenige Sekunden brannte, erzählte ihr Ippazio von seinem Arbeitstag. Von Müdigkeit angefressen, schwebten seine Worte in der Dunkelheit, die das Schwefelpulver mit Schnörkeln bemalte: »Ich habe eine sehr hohe Flamme gesehen, und manche meiner Träume ähnelten ihr …« Mimi vermisste Ippazios Phantasie, die Einbildungskraft, die ihre erste Liebe dazu brachte, Gespenster zu sehen,

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