Zementfasern - Roman
Mimi das Herz und die Zunge.
Accio war ein untersetzter Mann mit einem kleinen runden, blankpolierten Kahlkopf, er trug ein mephistophelisches Spitzbärtchen, das sein Gesicht in die Länge zog und ihm etwas Maskenhaftes verlieh. Die Männer verspotteten ihn mit dem Spitznamen Balanzino nach der Figur des Dottore Balanzone aus der Karnevalskomödie, doch schon bald siegte Accio über alle anderen Beinamen, denn Berto Brancaccio hatte ganz und gar nichts Scherzhaftes und Heiteres an sich.
Wer zu ihm kam, tat es, weil er ein Problem hatte.
Accio löste dieses Problem in seiner Praxis.
Im Grunde hätte in den siebziger Jahren in einem Land wie der Schweiz keine Frau mehr Schwierigkeiten gehabt, wenn sie abtreiben wollte. »Doch wenn sie Italienerin war und so lebte wie ich, dann kam sie um Accio nicht herum.«
Arianna verzog das Gesicht, senkte die Augen und blickte von dem Moment an zu Boden.
Sie hatte verstanden, was ihre Mutter sagen wollte. Accio nahm heimliche Abtreibungen vor, durch sein Behandlungszimmer gingen pro Jahr ein gutes Dutzend Frauen, die die Folgen eines Ehebruchs oder einer »Schande« verschwinden lassen mussten.
Mimi gebrauchte das Wort Schande, weil eine der Hebammen im Haus aus Glas es zu ihr gesagt hatte. Rosanna und Antonio wussten noch nichts. Sie war wirklich noch ein Mädchen, ihre Brüste waren kleine rosige Spitzen, erst ein Jahr zuvor hatte ihre Menstruation eingesetzt.
Nie war ihr übel geworden, doch eines Tages betrachtete sie ihr Bild im Spiegel, das sie mit ihren Streichhölzern beleuchtete, und entdeckte, dass ihre Haut verändert war, in der kleinen Flamme spiegelten sich ein Schimmer und eine Straffheit ihres Gesichts, die sie noch nie zuvor an sich gesehen hatte. Die Haare waren dunkler, rabenschwarz wie das Federkleid der Amseln, die sie bei den Festen der heiligen Maura gesehen hatte.
»Ich wusste, dass ich schwanger war, weil ich mich im Spiegel betrachtet hatte. Ippazio wollte das Kind nicht und übergab mich einer dieser Frauen, die mich zu Doktor Brancaccio bringen sollten.«
»Und das Geld?«
»Dafür sorgten die anderen Frauen. Vielleicht war auch ein bisschen Geld von deiner Großmutter dabei, die nicht wusste, dass diese eine von den vielen Kollekten für ihre Tochter bestimmt war.«
»Hat sie es je erfahren?«
»Sie hat vorher nichts gewusst und hat auch nachher nie etwas erfahren.«
»Und was hast du verstanden?«
»Manche Dinge verstand ich überhaupt nicht. Aber ich war älter als die fünfzehn Jahre, die auf meinem Ausweis standen, nach diesen harten Monaten, die ich durchgemacht hatte, der Kälte, den Aggressionen, dem Zement, der uns alle auffraß, war ich nicht so dumm, dass ich nicht begriffen hätte, was für ein Schlächter dieser Accio war.«
»Hat er dich untersucht?«, fragte Arianna drängend.
»Nein. Aber ich bin in seine Praxis gegangen.«
»Du bist hineingegangen?«
»Er hätte mich untersucht und das Kind innerhalb kürzester Zeit abgetrieben. Als ich das Behandlungszimmer betrat, spürte ich eiskalte Schauer, meine Beine zitterten. Jahre später habe ich verstanden, dass das weiße Licht, das er kalt und ungerührt auf mich richtete, dasselbe Licht war wie im Leichenschauhaus.«
»Und dann?«
»Und dann … dann bist du hier.«
Arianna begann zu stottern, sie versuchte, ein Weinen zu unterdrücken, das in ihr überfloss.
»Ich hatte Angst, Arianna, aber es war richtig so. Dieser Arzt hat nie etwas Gutes getan. Denn er war nicht menschlich. Wer Abtreibungen vornimmt, muss Mitgefühl haben. Und das erkennst du am Blick. Er sah mich kurz an, bevor ich in die Praxis hineinkam, und sagte, ich sei ein kleines Mädchen, es würde schnell gehen, und ich würde mich bald wieder erholen. Aber seine Stimme klang nicht beruhigend.«
Jetzt fiel es Mimi schwer, zwischen Ariannas Schluchzern weiterzuerzählen, sie sah Accios Profil und seine Miene genau vor sich, er war kurz angebunden und unbeteiligt. Im Klang seiner Stimme, in der Arroganz des Tonfalls, in der Art und Weise, wie Accio dem Blick des Mädchens auswich, lagen die Gründe für das, was Mimi tun würde.
Sie wurde von einer Frau in Alltagskleidung in das Behandlungszimmer geführt, dort gab es nur eine Liege unter einer Lampe in Pfannenform, ein graues Séparée, den Geruch nach Desinfektionsmittel und einen Tisch aus Metall. Mimi bemerkte ihn sofort. Sie musterte ihn, ging zu dem Tisch und berührte ihn mit den Händen, die Kälte stieg in ihre Handgelenke und über das Blut
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