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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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bis in die Knochen. Sie umkreiste den Tisch, zweimal, dreimal, schließlich ein viertes Mal. Sie hatte sich entschieden. Noch wusste sie nicht, ob sie sich dem Arzt ausliefern würde. Aber was sie in der nächsten Sekunde tun würde, dass wusste sie schon. Und bevor der fünfte Rundgang um den Metalltisch beendet war, verkroch Mimi sich darunter.
    Der Arzt kam in den Raum und sah niemanden.
    Er rief seine Assistentin ohne weißen Kittel und fragte:
    »Wo ist sie?«
    Die Frau schüttelte den Kopf.
    »Ist die dumme Gans etwa abgehauen?«
    »Ich weiß es nicht, Dottore.«
    »Hast du sie denn reingehen sehen?«
    »Ich habe sie selbst hier hereingeführt.«
    »Sie hat sich aus dem Fenster gestürzt … ah, da steckt sie ja, unter dem Tisch. Du bist wirklich ein kleines Kind, komm her, Dummchen.«
    Die Frau hatte einen imposanten Kopf auf einem schmächtigen Körper, ihre Gesichtszüge verzerrten sich.
    »Komm sofort da raus, der Doktor hat keine Zeit zu verlieren.«
    »Wenn du nicht schnell machst, tun wir dir weh«, drohte Accio.
    Die Frau bückte sich, bis ihr Gesicht unter dem Tisch direkt vor Mimi war und sie ihren Atem wenige Zentimeter entfernt spürte.
    »Wir wollen doch nicht, dass der Doktor nervös wird.«
    »… ich will dir nicht wehtun, aber wenn mehr Zeit vergeht, wird der Schmerz größer«, bekräftigte der Mann.
    Accio sagte das tatsächlich.
    Jahre später, als in Italien das Gesetz über den Schwangerschaftsabbruch verabschiedet wurde, kehrte Accio nach Sizilien zurück, wo er sich als Amtsarzt niederließ und zum ersten Arzt in seinem Heimatland wurde, der Abtreibungen aus Gewissensgründen ablehnte. Seine Quote an Abtreibungen hatte er erfüllt, außerdem trug er eine Anzahl Frauen auf dem Buckel, die durch den Eingriff Behinderungen erlitten hatten oder gestorben waren, anzeigen konnte ihn ja niemand.
    »Mama«, sagte Arianna seufzend und die Nase hochziehend. »Ich bin nicht unter den Tisch gekrochen.«
    »Bist du schwanger?«, fragte Mimi, aber sie wusste die Antwort schon.
    »Ich habe letzte Woche abgetrieben, Mama.«
    »Federico?«
    »Ich weiß es nicht, in den vergangenen Monaten habe ich andere Männer geliebt, einer von ihnen hat mich getäuscht, ich habe ihm vertraut, naja, es ist passiert, und dann ist er verschwunden, vielleicht verdient jede Frau in unserer Familie einen wie meinen Vater.«
    »Lassen wir Ippazio und seine Ängste beiseite. Lassen wir die Finger von Männern ohne Mut.«
    Jetzt hätte Mimi ihr erzählen können, warum Ippazio eine Enttäuschung war, was passiert war, nachdem Accio sie davonlaufen sah, in welchem Zustand sie während der folgenden Monate gelebt hatte, mit Arianna im Bauch, die Gesichter ihrer Eltern, feierlich, dann streng, als sie die Nachricht hörten, das Wort »Schande«, das ihr dröhnend im Kopf widerhallte. Sie hätte gerne alles erzählt, aber sie spürte, dass Arianna schon verstanden hatte, sie hatte verstanden, dass Ippazio nicht wegen einer anderen Frau weggelaufen war, wie Mimi ihr all die Jahre weisgemacht hatte, sondern aus Angst, und die Angst war sie, Arianna Orlando.
    »Du bist mutig gewesen«, sagte Mimi und drückte Arianna an sich.
    »Ich habe alles ganz allein gemacht, Mama.«
    »Bleib hier, solange du willst.«
    Doch sie wusste, dass Arianna nicht bleiben würde.
    Arianna fuhr am nächsten Tag nach Rom zurück. Sie schlief eine zweite Nacht in Mimis Armen, die diesmal nicht wachte, sondern sich dem Schlaf ergab. Der Bahnhof war in eine Decke aus Kälte gehüllt, als Arianna abfuhr, ihr Herz aber war heiterer. Sie beschloss, Federico noch vor Weihnachten zu verlassen, doch sie beschloss auch, keinen der Männer mehr zu treffen, mit denen sie in den letzten Monaten zusammen gewesen war.
    Sie würde die letzte Prüfung und dann ihren Doktor machen, danach würde sie vielleicht zurückkehren, um als Ärztin in Tricase oder in Lucugnano zu arbeiten, in der Nähe von Mimis Haus. Dort gab es einen wilden Zitronatbaum mit kleinen Früchten, die Zitronen ähnelten, der Baum war mit viel Liebe gepflegt worden, und er war ein Zeichen des Schicksals, das man lange Zeit übersieht und das einem ganz plötzlich vor Augen steht, zusammen mit dem Weg, der sich klar offenbart. Während der Jahre ihres Lebens in Rom, in ihrem Viertel voller Geschrei und Lärm, war ausgerechnet dieser Zitronatbaum das gewesen, was ihr am meisten gefehlt hatte. Der Duft der Blüten und der prägnante bittersüße Geschmack der Torten ihrer Mutter. Mimi rieb die Schalen der

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