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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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fühlte sich zum ersten Mal in ihrem Leben ausgesetzt. Jahrelang hatte sie ihre eigenen und die Ängste anderer in der Krawattenfabrik unter Kontrolle gehabt. Sie hatte die Mädchen beschützt, die sich gegenseitig beim Nachnamen riefen, sich vor den Maschinen ängstigten, nackt in ihren armseligen Kitteln, die schnell arbeiteten, ohne zu atmen, ohne ihre Schatten an den hellblauen Wänden wahrzunehmen, über die Eisendrähte gebeugt, während sie Fliegen umwendeten; und wenn eine von ihnen es wagen wollte, brauchte sie nur Mimis Blick zu suchen, einen aufmunternden Blick, der aber in jenen Tagen verwirrt schien, wie der Blick eines Gespensts, eines Schattens aus der Adria. Manchmal sieht man Augen, die den Augen Ertrunkener gleichen, sie sind weit geöffnet, der Blick ist unverwandt auf den Meeresgrund gerichtet, wie die Augen jener unbekannten Fremden, die an Mariä Himmelfahrt bei trübem Mond allein und ohne Badeanzug aufs Meer hinausschwamm und nie wiederkehrte. Mimi konnte niemanden trösten in jenen Tagen, als die Lampe für Gefahr ständig brannte und sie die Augen einer Fremden hatte. Auch dieses Gefühl verstärkte sich mit dem kleinen Billet aus Kartonpapier und ihrem neben den Taufnamen der Tochter gestempelten Namen. Orlando. Gerechtigkeit. Asbest. Opfer.

»Das bringt mir Antonio auch nicht zurück.«
    Das skeptische Mantra, das Großmutter Rosanna seit Tagen aufsagte.
    Am Abend des großen Ereignisses kamen Mimi und Rosanna im Schlafzimmer zusammen. Mutter und Tochter hatten in letzter Zeit recht wenig Gelegenheit zum Sprechen gehabt, auf Seiten Rosannas schwebte ein Wunsch in der Luft, den sie ihrer Tochter nicht zu offenbaren wagte. Seit Antonio gestorben war, wartete sie auf Mimis Angebot, in ihr Haus zu ziehen.
    Warum hatte die Tochter sie nie darum gebeten?
    Rosanna hätte abgelehnt, doch sie spürte, dass Mimi ihr dieses Angebot schuldig war. Am Abend der Ausgesetzten prallten zwischen den Mauern und Spiegeln des Hauses Orlando zwei klare Fronten scheinbarer Unnachgiebigkeit aufeinander. »Arianna möchte es so gerne« gegen »Ich mag nicht, Mimi, von diesen Dingen weiß ich doch gar nichts«.
    Die Tür zum Schlafzimmer gab ein leises Schnarren von sich, Arianna war aufgetaucht, sie verströmte ein anderes Licht als gewöhnlich, Mimi hatte sogar den Eindruck, dass ihre Tochter leuchtete, ein unbekannter Glanz umgab sie.
    An beide Frauen gewandt, deren Augenlider jetzt halb geschlossen waren: »Warum gehen wir nicht zusammen hin?«
    Allen drei Frauen Orlando trat das Bild des großen Feuers zu Ehren des heiligen Antonius vor Augen, die Freudenfeuer am 17. Januar, wenn die hohen Scheiterhaufen mit Reisig aus Oliven- und Weinstockzweigen auf der Piazza von Lucugnano brennen und die Luft mit glühenden Staubwolken erfüllen.
    »Arianna, mein Kind, wie soll ich’s euch bloß sagen, dein Großvater kommt nicht mehr zurück. Das nützt alles gar nichts.«
    »Vielleicht nützt es ja
sirma
, meinem Vater, und mir. Was meinst du?«
    Mimis Miene verdüsterte sich, sie ließ Arianna offenen Mundes erstarren: »Lass
sirta
, deinen Vater, in Ruhe.«
    »Nein, Mama, ich lasse meinen Vater nicht in Ruhe, alle um uns herum sterben, und eines Tages wird keiner mehr da sein, den ich fragen kann, woher ich komme. Die jeweils eigene Wahrheit der Menschen will ich gar nicht wissen, mir reicht schon etwas weniger Nebel, weniger Förmlichkeit, Großmutter, auch du bist gemeint, es ist viel wichtiger, dass du heute Abend zu dieser Veranstaltung mitkommst als zu einem unserer Feiertagsessen … verstehst du das? In diese Sache habe ich meinen Ruf gesteckt und mein Blut.«
    Die
parmasie
ohne Milch hatten auch für die Frauen begonnen.
    Die Frauen, die vor vierzig, dreißig Jahren die Arbeitskleidung jener kräftigen jungen Männer gewaschen hatten, begannen jetzt immer häufiger zu husten, fühlten ihre Stimme verschwinden, es war ein einziger Husten, der sich in den Häusern des Salento ausbreitete.
    Mit Federica begann die Reihe der Erkrankungen, dann folgte Maria Giovanna und dann Cristina, und in jedem dieser Häuser gab es einen Arbeitskittel, der mit Seife gewaschen worden war. Ein Kittel voller Asbestfasern, die sich in den Lungen der Frauen eingenistet hatten, wenn sie in den Bottichen mit Wasser und Wäscheseife gerührt hatten.
    Rosanna schien eine wundersame Ausnahme von dem Massensterben zu bilden, heil und ganz nahm sie jeden Tag in der Kirche San Vito am Rosenkranzgebet und danach an der Messe teil. Doch der

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