Zementfasern - Roman
schneller wurde und im Kragen der Bluse verschwand.
»Macht nichts, wenn du heute nicht reden willst, du kannst auch morgen mit mir drüber reden, auch in zehn Jahren. Ich bin immer da.«
»In zehn Jahren vielleicht.«
»Ich warte auf dich.«
»Ich habe auch siebenundzwanzig Jahre gewartet, um etwas über dich zu erfahren.«
Mimi fuhr langsamer, bis sie fast stillstand. Das war mitten auf einer Kreuzung, aber kein Auto fuhr vorbei, sie musste so tief Luft holen, wie sie nur konnte, sie fing an, mit der Brust zu atmen, dann mit dem Bauch. Vor ihr öffnete sich die Altstadt wie ein Schrein in einem leuchtenden Gelb, im Schimmer der künstlichen Lichter färbten sich die Mauern der alten Häuser mondsilbrig, dann entdeckten sie unter der Porta Napoli vor einem Kiosk, wo Bier verkauft wurde, Biagio, der einen Pakistaner umarmte, der Mann hatte ihm gerade eine kleine Flasche Dreher geschenkt.
»Arianna, es gibt nichts, was du nicht schon wüsstest.«
»Mir fehlen die Begleitumstände.«
»Von denen erzähle ich dir morgen. Aber sag du mir, warum du hier bist.«
»Halte mich nicht für verrückt, wenn ich’s dir sage.«
»Das bist du nicht.«
»Weil ich nämlich heute Nacht bei dir schlafen will.«
»Bei mir?«
»Umarmt, du hältst mich ganz fest, ich liege zusammengekrümmt, und du drückst mich von hinten, fest, du darfst mich nicht weggehen lassen.«
»Ich lasse dich nicht weggehen.«
»Dann fahre ich wieder, morgen Abend reise ich wieder ab, aber es ist, als würde ich nie mehr abreisen. Du darfst Federico nichts davon sagen, dass ich hier bin, auch deinen Freundinnen nicht, Paolo, der Großmutter, deinem Verlobten nicht. Heute Nacht musst du mich zermalmen, ich bitte dich.«
So hatte Mimi ihre Tochter noch nie sprechen hören.
Es herrschte ein langes Schweigen zwischen den beiden Frauen bis nach Lucugnano, ihrem Heim.
Nicht für Biagino, der die ganze Fahrt über plapperte, er habe alle möglichen Leute getroffen, sie seien zwischen den bossierten Hausmauern mit ihm spazierengegangen, und er habe einen Liter Schaum getrunken, und »Lecce, das ist Stadt«, und »die wissen ja gar nicht, was Bier ist«, sie vertragen keinen Alkohol, Weicheier seien das, »Weiber« ohne Mumm in den Knochen, »die trink ich doch alle unter den Tisch«.
Mimi und Arianna beobachteten stumm den Mittelstreifen der Straße, sie schienen sehr auf die Strecke konzentriert, verpassten jedoch zweimal die richtige Abzweigung. In der winterlichen Stille kamen sie zu Hause an, die Luft roch nach verbranntem Holz, und sie blieben vor dem Kamin stehen, es war nur Asche darin und eine kleine Ader aus Glut.
Mimi schob mit der Schaufel die Kohlestückchen zusammen, die noch Feuer zu fangen schienen, dann ging sie in ihr Zimmer und ließ die Kleider von sich abgleiten, als wäre sie eine Schaufensterpuppe. Sie stand kerzengerade, hob die Füße auf die Zehenspitzen und schüttelte sich, damit das Kleid an ihr herabfiel, der Stoff sie streichelte und die Haut kratzte, die sich in der Kälte zusammengezogen hatte.
Arianna kam mit heißen Wärmflaschen herein.
»Die lagen in meinem Bett, danke Mama, aber vielleicht gehören sie eher in dein Bett.«
»Unser Bett, heute Nacht.«
»Stimmt.«
Die Wärme des Flaschengummis teilte sich den Laken mit, aber den eiskalten Kern der Matratzen vermochte sie nicht zu erreichen. An Stoff und Gummi reibend, trafen Mimis und Ariannas Körper aufeinander, Arianna krümmte sich zusammen, und dieselbe Bewegung machte die Mutter hinter ihrem Rücken, einen Arm schob sie unter den Nacken ihrer Tochter, den anderen legte sie auf ihren Bauch.
Arianna zuckte zusammen.
»Federico hält mir nie den Bauch.«
»Nicht alle Männer wissen, wie man eine Frau umarmt. Doch wenn sie lieben, lernen sie es nach und nach.«
»Können deine Männer dich umarmen?«
»Sie verlernen es alle wieder. Bei den ersten Malen hilft dir die Ehrlichkeit, dann verändern sie sich, erinnerst du dich an den Anwalt? Er hat sofort damit aufgehört, und wenn er es tat, war es gekünstelt, gespielt. Ich spürte in seinen Händen kein Feuer mehr. Das ist einer von Millionen Gründen, warum unsere Geschichte zu Ende gegangen ist. Und vielleicht hört es auch mit dem Jungchen auf …«
Arianna bemerkte, dass ihre Mutter keinem ihrer Liebhaber einen Namen gab.
Mimi spreizte die Finger und verbreitete eine starke Wärme auf Ariannas Bauch.
»Ja, halt mich so fest«, sagte die Tochter.
Geheimnisse haben ihre Zeit. Genauso wie die
Weitere Kostenlose Bücher