Zementfasern - Roman
Fragen.
Sie reifen und fallen erst, wenn sie ausgereift sind, kurz bevor sie zu faulen beginnen, wie die Zedratzitronen im Garten.
Die Zeit der Wahrheit war gekommen, und den geeigneten Zeitpunkt hatte der Zufall vorgegeben, die eben zu Ende gegangene Nacht, die die Herzen von Mimi und Arianna zusammengeschweißt hatte.
Mimi hatte mehrere Stunden lang keinen Schlaf gefunden, aber sie hatte über Arianna gewacht.
In den letzten Jahren hatten sie nur sporadisch Kontakt zueinander gehabt. So war in Mimis Vorstellung das Bild eines Mädchens entstanden, das ganz anders war als die Arianna, die sie in ihren Armen tief schlafen spürte. In den seit Ariannas Ankunft in Lecce gemeinsam verbrachten Stunden kam die Seele ihrer Tochter zum Vorschein. Im Schlaf und im schwereren Atem, im gelegentlichen Erschauern, das von einem Traum oder vielleicht nur von unwillkürlichen Zuckungen der Muskeln und Nerven herrührte, offenbarte sich die Mischung aus Kindheit und Instinktivität. Arianna schlief und träumte, Mimi wachte.
Wenn Arianna ein wenig zitterte, drückte Mimi sie fest an ihre Brust und rieb den Busen an ihrem Rücken, dann streichelte sie ihren Bauch bis hinunter zu den Oberschenkeln.
Sie ahnte, dass sie zu den falschen Zeiten eine aufmerksame Mutter gewesen war. Arianna war in ihr Leben getreten, großgezogen hatte sie das Kind in einem kleinen Vorort eines kleinen Städtchens aus bernsteingelben Steinen, umgeben von Hügeln voller Olivenbäume, einer Gegend, die aussah wie Palästina.
Mimi rief sich die Tischfußballpartien in Erinnerung, den Geschmack des Breis, den sie zubereitete und probierte, als Arianna ein rosa Püppchen war. Sie holte sich Federico und Paolo ins Gedächtnis zurück, sie hatte die beiden Kinder aufwachsen sehen, sie hatten um Arianna gewetteifert, und das Schicksal hatte seinen Schabernack mit ihrer kleinen Vierergruppe getrieben. Doch Mimi ahnte auch, dass die Zeit gekommen war, sich davon zu befreien. Jede Minute, die in jener Nacht durchlebt wurde, eine an die andere geheftet, führte die beiden näher an ihre Wahrheiten des nächsten Tages heran.
Mimi schlief nur wenige Minuten, kaum schloss sie die Lider, begann sie zu träumen, doch bald darauf drang die Morgenröte mit einem Lichtfaden ins Haus. Ein neues Leben würde beginnen.
Die erste Wahrheit hatte einen Namen und einen Nachnamen.
Er hieß Berto Brancaccio, doch alle nannten ihn einfach Accio. Er war aus Chiasso nach Zürich gekommen, weil viele Italiener es noch immer vorzogen, sich in der ärztlichen Praxis dieses Herrn behandeln zu lassen, der in Sizilien geboren war und Mitte der siebziger Jahre sein Glück im Tessin gemacht hatte. Als man ihn in den italienischen Vierteln von Zürich ankommen sah, vollführten die Frauen eine bedeutungsvolle Geste: Sie schlugen sich auf die Hinterbacke, eine grobe Geste, etwas für rohe Kerle, aber das war ihre Weise, einander zu verstehen zu geben, dass die Zeit gekommen war, in den Beutel zu greifen und Geld zu sammeln, ohne sich von den Männern dabei erwischen zu lassen.
»Weißt du warum?«, fragte Mimi. Und sie antwortete sich selbst: »Er war sehr habgierig.«
Die beiden Frauen waren seit einer Stunde wach, sie hatten Milch aufs Feuer gestellt und sie überkochen lassen. Als der weiße Schleier der Sahne das Töpfchen umhüllte, hatten sie über ihre Unaufmerksamkeit gelacht.
Dann hatten sie sich einen guten Kaffee gekocht, dickflüssig und stark, dessen Duft die Luft erfüllte. Sie knackten Mandeln und getrocknete Nüsse. Eingemummelt in wollene Morgenröcke und Decken, mit Frotteesocken an den Füßen in der Küche sitzend, sprachen sie leise, weil sie Biagino nicht wecken wollten, doch in Wirklichkeit taten sie es, weil plötzlich ein starkes Bedürfnis nach Diskretion in der Luft lag.
»Accio war ein Arzt, der sich teuer bezahlen ließ, mit seiner Tätigkeit hatte er sich ein kleines Imperium aus Immobilien aufgebaut.«
»Ich weiß schon, warum ich Medizin studiert habe«, bemerkte Arianna ironisch, und ein Funken entspannter Heiterkeit blitzte in ihrem Gesicht auf, nur einen Augenblick, aber lang genug, damit Mimi Atem holen konnte.
»Alles, was Accio aufgebaut hat, trieft von Blut. Und jetzt erzähle ich dir eine Geschichte, deine Geschichte. Ich wollte sie dir niemals erzählen, weil ich immer gehofft habe, dass du eines Tages deinen Vater kennenlernst, aber das ist nicht geschehen.«
Das blasse Honiggold des Morgens und Ariannas feierliche Aufmerksamkeit lösten
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