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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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Früchte in die Süßspeisen, in den Biskuitteig und in die Zabaione, die sie im Winter zum Frühstück zubereitet hatte, wenn Arianna in die Schule ging.
    Ein einziges Mal hatte Arianna auf einer Reise ihre eiserne Regel gebrochen, die darin bestand, sich niemals etwas von zu Hause mitzunehmen. Es machte sie traurig, zu sehen, dass die guten Sachen allmählich zur Neige gingen, die Vorräte an Süßigkeiten ihrer Mutter, die Peperoni- und Tomatencremes ihrer Großmutter. Diesmal machte sie eine Ausnahme, und so erfüllte der Duft der Zedratzitronen, die in feuchte Tücher eingewickelt waren, um ihr Aroma zu bewahren, die Luft und verbreitete sich in allen Abteilen des Zuges.

2006
Die Ausgesetzten

Asbestteilchen haben die Form eines Hakens, sie sind winzig und leicht, unter dem Mikroskop betrachtet, gleichen sie Schmuck aus alter Zeit, dem schlichten Geschmeide einer Königin oder Ohrringen, die eine vornehme Burgherrin schmücken könnten. Es sind jene Schmuckstücke, die man, überzogen von der dunklen Patina der Zeit, in Museen für klassische Goldschmiedekunst findet. Diese Häkchen dringen durch Mund und Nase in den Körper, angetrieben von der Schwerkraft, dem Schluckmechanismus oder der einströmenden Luft, passieren sie die Kehle und gelangen bis in die Lungen, doch beim Ausatmen werden sie nicht wieder verschwinden. Sie werden sich in den Zellen festhaken und dort verweilen. Sie werden kleine Geschwüre erzeugen und dann leichte Entzündungen, die über das Gewebe des menschlichen Körpers wieder in die Höhe steigen, die Stimme rauben, die Nasenflügel anschwellen lassen und den Geruchssinn verwirren, sie werden die Augenlider schwächen und die Sehkraft zerstören.
    Diese hakenförmigen Schmuckstücke haben viele in Tricase und Umgebung umgebracht. Jene, die in der Ternitti gearbeitet hatten, jene, die sich ein Haus aus Ternitti gebaut hatten, jene, die nur daneben, darin, darüber oder darunter wohnten, ohne es zu wissen.
    Der Vope, Antonio Orlando und viele andere hatten nach kurzen oder langen qualvollen Todeskämpfen ihre Welt aus Kieselsteinen und Olivenbäumen verlassen.
    Und Mimi packte den hundertsten Totenkorb mit Konfitüre und Mehl für die hundertste
parmasia
.
    Man nannte sie die »Ausgesetzten«.
    Ein Wort, das noch andere, verborgene Bedeutungen in sich trägt und das Mimi an die Aussetzung des Heiligen erinnerte, die Zeremonien, bei denen an die Gelübde und Wunder von Ippazio, Vito, Domenica, Sofia, Biagio, Tryphon und allen Schutzpatronen des Salento erinnert wurde. Doch die Ausgesetzten, die in den Gemeindesaal von Corsano eingeladen waren, bildeten eine andere Kategorie von Gläubigen, sie mussten um keine Gnade beten bei dem öffentlichen Treffen, das von der Emigrantenvereinigung für »die dem Asbest Ausgesetzten« organisiert worden war.
    Arianna hatte bei den Vorbereitungen mitgearbeitet, aber sie hatte nie mit Mimi darüber gesprochen. Die fand eines Tages im Briefkasten eine Einladung, »Gerechtigkeit für die Asbestopfer« lautete die Überschrift, darunter waren die Ziele und Gründe des Treffens beschrieben: die eigenen Rechte kennenlernen und Informationen über Möglichkeiten für eine Entschädigung der Fabrikarbeiter und ihrer Angehörigen erhalten. Mimi war entsetzt. Seit Monaten erforschte ihre Tochter auf eigene Faust die Geschichte der Dörfer ihrer Heimat, am Baum des Emigranten, am Dialekt, an Konzerten und Gedichten hatte sie kein Interesse mehr. Was blieb, waren eine Handvoll Asbestfasern, die sie alle miteinander umbrachten, außerdem das Ritual der Totenkörbe, die Arianna seit einiger Zeit zusammenstellte und die sie zu einem konkreten, eher politischen als anthropologischen Engagement gebracht hatten.
    In den Tagen rund um das Ereignis empfand Mimi die Arbeit in ihrer Krawattenfabrik als eine drückende Belastung, was nicht zu ihr passte. Geistesabwesend betrachtete sie die Reihen der Frauen, die sich mit den immer gleichen Bewegungen der Nähmaschinen herumschlugen, sie hörte das Brummen der elektrischen Apparaturen und das Dröhnen der Dämpfe speienden Pressen; die Details der Krawattenherstellung beunruhigten sie. Es war zwar keine wirkliche Angst, sie ähnelte jedoch dem Gefühl eines Menschen, der zum ersten Mal in einem Flugzeug sitzt und die Geräusche der Räder, die ein- und ausgefahren werden, und die Manöver eines Abflugs nicht kennt. Das kleinste Geräusch, das von der Normalität abweicht, lässt eine imaginäre rote Lampe aufleuchten. Mimi

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