Zementfasern - Roman
anderen auf, überquerten den Kirchplatz und betraten das Labyrinth kleiner Gassen, das zum Ort des Treffens führte.
Vor einer Garage standen Stühle, wo drei Männer Karten spielten, darunter auch Annas Ehemann, eine stattliche Erscheinung mit muskulösem Nacken und den kolossalen Armen eines Trägers schwerer Lasten.
Er verspottete die Frauen: »Ah, die Teresa und die Mimi … allein, wie immer …«.
»Lieber allein als mit dir«, murmelte Teresa, aber sie sagte es wie eine Zauberformel, eine Litanei, die nur sie hörte, als sie auf ihren Lippen erschien und dann verschwand.
Zweihundert Menschen zusammengedrängt im Auditorium, es roch nach Feuchtigkeit und abgestandener Luft, drei Bürgermeister mit Trikolore-Schärpen, die Menschenmenge wogte über die nach unten zur Bühne abfallenden Treppenstufen.
Noch während die Leute Platz nahmen, ergriff Arianna das Wort. Sie pustete ins Mikrophon, was wie ein Zauberspruch wirkte, denn augenblicklich brachte er die noch Stehenden dazu, sich hinzusetzen.
»Ich bin Arianna Orlando, mein Großvater Antonio, an den sich viele von euch erinnern werden, starb 1999 an Asbestose. Ich möchte euch fragen, wie viele von euch in der Familie jemanden haben, der an Krebs erkrankt oder gestorben ist.«
Die Stille, die nach Ariannas ersten Worten eingetreten war, wurde zu einem Stimmengewirr, doch dann verwandelte es sich in die Ruhe, mit der man sich nach einem Aufruhr wieder sammelt.
Keine einzige Hand hob sich. Es dauerte wenige Sekunden, Arianna durchzuckte ein Blitz des Entsetzens. Das konnte niemand wissen, nur Mimi las in ihrem Gesicht einen schreckensstarren Blick, den sie noch nie an Arianna gesehen hatte. Wenn nötig, hätte Mimi als Erste die Hand gehoben. Aber vielleicht wäre das noch demütigender gewesen.
In diesem Moment ertönte eine leise Stimme, sie begleitete die erste Hand, die sich hob. »Ich heiße Giulia.« Es war eine bekannte Stimme, eine vom Haus aus Glas. Eine Stimme, die seit langem in einer Bodensenke alter Erinnerungen verschüttet gewesen war, eine Stimme aus bestimmten Vokalklängen, die dann in einem einzigen Moment ausgegraben und vom Abgrund aus neu programmiert wurden.
Über Giulias Stimme legte sich eine zweite, Vittorio, dann folgte Giuliano, dann Vito, schließlich Cosimo, und zusammen mit diesem umgekehrten Appell ohne Aufruf der Namen gingen die Hände in die Höhe, eine, zwei, drei, Dutzende und dann gut hundert Arme, verbunden mit unterschiedlichen Stimmfarben, einige waren heiser, alt, andere jung oder kindlich.
Im Saal ging das Gerücht um, einer der Fabrikleiter der Ternitti sei da, doch angesichts der Ereignisse, an die erinnert wurde, erkannte man bald, dass es haltlos war. Stattdessen sprachen die Verwandten der Opfer, und ein Kranker, der von seinen Erfahrungen erzählte, hängende Wangen, dunkle Ränder unter den Augen, er keuchte eher als dass er sprach: »Ich litt unter Asthma, und sie schimpften mich einen Simulanten, man hat mir schon zwei Lymphknoten entfernt, ich habe zwei Chemotherapien durchgemacht, wann wird das alles endlich aufhören?«
Es gab wütenden Beifall, Zwischenrufe, man suchte einen Sündenbock, und als ein Anwalt erklärte, da sei nicht viel zu machen, wurde er mit Pfiffen übertönt.
Ein Komitee wurde gebildet, man tauschte Adressen und Telefonnummern aus, es waren Leute dabei, die in Casale, in der Schweiz oder auch in Bari gearbeitet hatten. Am schlimmsten war es um die Überlebenden von Niederurnen im Kanton Glarus bestellt, einer der vielen Schweizer Zementfabriken, in der die meisten jungen Männer aus dem Salento gearbeitet hatten.
Rosanna und Mimi saßen rechts oben, auf zwei kleinen Klappsitzen nahe beim Ausgang. Sie hatten gedacht, sie würden schon bald wieder gehen können, aber die Stimmung war hitzig geworden, sie fühlten sich von einem Wind des Zorns gepeitscht, jetzt wollten sie das Ende des Treffens abwarten, um mit einer Hoffnung nach Hause zurückzukehren.
Die Frist für den Antrag auf Entschädigung war schon abgelaufen, was man jetzt noch fordern konnte, waren Brosamen, es gab eine Schweizer Versicherung gegen Arbeitsunfälle, SUVA genannt, und dann traten Präsidenten, Vizepräsidenten und Verwaltungsräte von Verbänden auf, die einer zunehmend erregten Menge erklärten, bei wem man detaillierte Informationen einholen konnte.
»Siehst du, wir haben uns nur aufgeregt«, sagte Großmutter Rosanna, deren Wangen purpurrot glühten, »ich habe keine Lust, meine letzten
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