Zementfasern - Roman
tägliche Besuch verdankte sich weniger einem Gelübde, weniger der Frömmigkeit als einer Gewohnheit, die sie nicht entbehren wollte, um ihre Nachmittage damit zu füllen, die im Sommer lang und zermürbend waren. Unter der Asche war Rosanna eine moderne Witwe, die Mimi ein Privileg gewährt hatte: Sie stellte ihr keine Fragen, sie bat sie nicht um Hilfe. Rosanna haderte nicht mit ihrem einsamen Leben, obwohl ihr Alleinsein, verglichen mit dem Umfang des ländlichen Lebenskreises der Tochter, in gewisser Weise willkürlich erschien. In allerletzter Zeit jedoch hatte sich ein gegenläufiges Bedürfnis eingeschlichen, sie wollte von der Tochter getröstet, angehört werden, kleine Versäumnisse, wie eines Sonntags nicht zum Mittagessen eingeladen zu werden, oder das große Schweigen über die beiden getrennten Haushalte wogen nun schwerer für Rosanna.
So war Rosanna früher nie gewesen, sie hatte darauf verzichtet, die herkömmlichen Rollen einzuklagen, hatte Mimis Schwangerschaft hingebungsvoll unterstützt und betreut. Diesen Bauch mit Arianna darin am Körper derjenigen wachsen zu sehen, die damals wie ein kaum ausgewachsenes Mädchen erschien, war schockierend gewesen. Es stellte sie vor einen Scheideweg, der sie gezwungen hatte, Signale aufzufangen, die ihr das innerste Wesen ihrer Tochter offenbarten. Nur wenigen Menschen ist vergönnt, Einzelheiten zu erfahren, die mit unserem ureigensten Wesen zu tun haben. Signale aufzufangen bedeutet nicht, sie zu verstehen, sondern sie für einen einzigen, freilich sehr kurzen Moment so zu ergreifen, dass man nicht fehlgeht.
Am Abend des Treffens der Überlebenden ereignete sich wieder einmal eine Wende im Verhältnis zwischen den drei Frauen, und diese Wende wurde von der dritten Frau erzwungen, von Arianna, mit ihrem leidenschaftlichen Plädoyer. Während Arianna sprach, kam ein starker Brandgeruch von draußen herein; auf dem Land werden zum Ende der Jahreszeiten oft die Stoppeln am Wegrand verbrannt. Weil es gesetzlich verboten ist, geschieht es heimlich, in den stillen Mittagsstunden oder zur Zeit des Abendessens. Der Geruch nach Rauch, nach verbrennender Quecke und Wolfsmilch, ist der Geruch der Umarmungen bei den Freudenfeuern im Januar.
Rosanna hatte Mimis einzelgängerische Natur erkannt und beschlossen, ihre Neigung zu unterstützen.
Im Gedanken an das Schicksal aller Orte in ihrer Umgebung und der Menschen, mit denen sie emigriert und zurückgekehrt war, sah Rosanna die Nächte der großen brennenden Scheiterhaufen vor sich, und sie beschloss, dass sie dieses eine Mal auf ihre Enkelin hören würde.
In der Ödnis des Lucugnaner Abends, die Luft war schwer von feuchtem Dunst, stiegen die drei Frauen ins Auto und fuhren über die Schnellstraße Maglie–Leuca an Alessano vorbei nach Corsano. Das Land der
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und Trockenmauern, die an diesem Abend eine silbrige Färbung hatten und zu ihren vorgeschichtlichen, phantastischen Ursprüngen zurückkehrten. Die Steine Apuliens haben eine längere Geschichte als die Menschheit; einst sammelten die Bauern sie mit ihren Hakenpflügen, um damit ohne Mörtel Trockenmauern und
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zusammenzufügen. Der Boden in Mimis Heimat war überreich an uralten Steinen, aus denen Trulli und Dolmen gebaut wurden, und es war, als durchpflügte man ein Beinhaus, einen Teppich aus Geistern. Auf der Fahrt nach Corsano, wo sie die Geschichten der Märtyrer der Ternitti hören würde, dachte Mimi an den offenkundigen Widerspruch, den ihre Heimat ihr an diesem Winterabend darbot. Ihre Landsleute, die jetzt am Zement starben, waren während der Epoche des Asbests in einer Region aufgewachsen, wo Steine sich gegenseitig suchen, sich zueinandergesellen und wie von einem unsichtbaren Magneten gelenkt ineinanderfügen, weil sie zusammen sein wollen. Und wenn der Asbest etwas Böses war, dann war es nicht nur der Schmerz der Asbestose, der Brustfellentzündung und der Tumore, die diese Krankheiten mit sich brachten, sondern die Tatsache, dass unsere Gräber, unsere Steine unbewacht und unbedeckt zurückgelassen wurden, bevor die Nacht kam.
Auf der Piazza erwartete sie Teresa, Mimis treue Freundin, mit einem neuen Kurzhaarschnitt, weiten Hosen, die Hände in den Hosentaschen, sie sah aus wie ein Mann.
»Wo Arianna mitgemacht hat, da geh ich hin, weißt du«, wandte sie sich an Mimi mit der Überzeugtheit eines Menschen, der einem Ruf folgt.
»Wetten, dass Anna heute Abend an der Leine liegt?«, sagte Mimi traurig, dann schlossen sie zu den
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