Zementfasern - Roman
das Fest der heiligen Domenica sich in fünfzig Jahren verändert hatte, seit der Zeit, als Antonio und Rosanna Orlando mit einer
littorina
, die es heute nicht mehr gab, auf das Fest gefahren waren. Die Menschenmenge war vielleicht ungeordneter als damals, dennoch blieben die Leute auch jetzt still und fast unterwürfig, während die Lichter darauf warteten, angezündet zu werden. Dies war der eindrucksvollste Augenblick, Mimi hätte den Atem ihrer unbekannten Nachbarn spüren können, die mit ihnen in einer der Seitenstraßen auf das Anzünden der Lichter warteten. Bis auf die Piazza kam man nicht, von ferne sah man ein Stück des Pavillons, der riesigen Bonbonniere aus Lichtern, in deren Innerem die Musiker soeben Platz nahmen. Sie würden eine Auswahl der Lieder von Mascagni spielen, der Musiker war sehr beliebt in Scorrano, es hieß, er sei einmal zum Beten hierhergekommen, als er in Cerignola in Apulien gelebt hatte. Marcello und Arianna hielten sich eng umschlungen, er gab ihr nervöse Küsse auf die Haare, sie standen am Rand des Bürgersteigs auf Zehenspitzen. Biagino war schweigsam, suchte nicht nach Freunden, mit denen er Saufgelage abhalten konnte, sondern wartete auf die ersten Lichter und die ersten Klänge, die das Aufflammen der Lichter begleiten würden.
Drei konkurrierende Firmen hatten die Straßen untereinander aufgeteilt, der Corso war einem Betrieb aus dem Salento überlassen worden, die anderen beiden, fremden Firmen beleuchteten die restlichen Straßen, die auf der Piazza zusammenliefen. Es war vollkommen dunkel, nur noch wenige Minuten bis Mitternacht, man hörte Kinder schreien, hier und da Gelächter, Mobiltelefone wurden über die Köpfe der Menge gehalten, um Licht zu spenden. Dann setzte die Musik ein, eine feierliche Ouvertüre, gleich darauf das
Nessun dorma
aus Puccinis
Turandot
, Mimi bekam eine Gänsehaut. Der Himmel leuchtete von blauen Feuern, und die erste Straße erstrahlte im Licht, die Lämpchen bildeten ein Spektrum aus Blautönen, blendend hell wie der Schweif eines Kometen. Nach der
Turandot
kehrte das Dunkel zurück, die Musik verklang und die Feuerwerke erloschen, in Erwartung der nächsten Lichterreihen, die sich entzündeten. Auch dieses ein großartiges Schauspiel, aber nicht so wie das erste. Mimi stiegen Tränen in die Augen, wieder erklang eine mächtige Ouvertüre, doch es war eine elektronische Musik, das Feuerwerk war kürzer, präziser, die Explosionen zeichneten ein Herz an den Himmel, einen Kreis mit den Schrägstrichen einer kleinen Sonne der Zukunft. Sie nahm Biaginos Arm und sagte ihm ins Ohr: »Das ist alles so schön, warum sind wir nie hierher gefahren?« Der Bruder antwortete nicht, aber er sah ihr in einem der Momente, in denen die Luft sekundenlang weiß wurde, in die Augen. Es war ein urzeitlicher Blick aus den Raubtieraugen eines Geschöpfs, das sich in einem anderen Vertreter seiner Gattung erkennt, das vage und sehr tiefe Einvernehmen, das die Geschwister Orlando seit jeher verband.
Dann flammten die letzten Lichter auf, ungeheure Fontänen aus Licht funkelten rubinrot, gelb und grün, glitzernde Steine am Horizont des kleinen Ortes, der jetzt von der stürmisch vorgetragenen Musik Mascagnis durchbraust wurde. Die Menge setzte sich in Bewegung, um zwischen den beleuchteten Giebeln und Gerüsten, die die Nacht zum Tag machten, umherzuwandern. Fünfzehn Jahre seit der Nacht des heiligen Rochus war es Mimi gelungen, das, was sie als ihre Familie ansah, zusammenzuhalten.
»Marcello hat keine Lust mehr«, sagte Arianna.
Mimi war schockiert.
»Du bist wirklich ein Stadtmensch«, rief sie verärgert aus.
Sie waren auf dem Rückweg und suchten das Auto, Arianna und Mimi fanden sich in der Menge Seite an Seite wieder, die Tochter hatte sich diesen gemeinsamen Abend so sehr gewünscht, es war die beste Weise, ihre Zustimmung zum Treffen mit Pati auszudrücken.
Sie stiegen ins Auto, ließen die Umgehungsstraße hinter sich und landeten auf der Schnellstraße Maglie – Leuca, im Hintergrund ahnte man schon den Himmel über dem Meer. Als sie in Lucugnano ankamen, war es zwei Uhr nachts. Das Viertel schlief. Sie standen auf der Türschwelle, Biagino sagte allen gute Nacht, da fragte Arianna: »Kommst du mit uns ins Gibò tanzen?« Marcello blickte seine Freundin böse an. Mimi wäre gerne mitgekommen, das Gibò war eine Diskothek auf den Klippen ganz nah beim Ciolo, dem Felsen, wo ihre Tochter waghalsige Kopfsprünge gemacht hatte, wo auch sie ins Meer
Weitere Kostenlose Bücher