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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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an dem Mann vorbei bis an den Rand der Schlucht, aus dem Augenwinkel versuchte sie so viele Einzelheiten wie möglich zu erspähen.
    Der Mann schien nicht bemerkt zu haben, wer da an ihm vorbeigegangen war. Er grüßte höflich.
    »Ist Ihnen nicht zu heiß?«, fragte Mimi, während sie aufs Meer hinausblickte, ohne sich umzudrehen.
    »Ich schaue mir gern das Meer an, aber nur von hier.«
    »Können Sie nicht schwimmen?«
    »Ich bin geschwommen bis ich zwanzig war, jetzt habe ich Angst, ins Wasser zu gehen.«
    »Sie haben Angst hineinzuspringen?«
    »Nein, ich habe Angst, nass zu werden.«
    Es war unglaublich, Ippazio hatte dieselbe Stimme wie vor dreißig Jahren, aber Mimi war nicht wiedererkannt worden. Sie fühlte sich überschwemmt von Traurigkeit, ihr schwindelte, sie wusste nicht, wie ihr geschah, ein Mann ohne jede Intuition des Gefühls, dachte sie.
    Sie stand mit dem Gesicht zum Meer, ihr Rücken war dem sitzenden Mann zugewandt.
    »Entschuldigen Sie bitte, darf ich Ihnen eine, sagen wir, persönliche Frage stellen?«
    »Ja.«
    »Sie sind nicht von hier?«
    »Ich bin hier geboren, aber in der Schweiz aufgewachsen.«
    »Arbeit?«
    »Arbeit.«
    »Liebe.«
    Das dachte Mimi, aber sie fragte nicht danach.
    »Familie.«
    Auch das fragte sie nicht.
    Sie beendete ihr Verhör. Fragte, wie er heiße. »Ippazio, aber Sie können mich Pati nennen«, gab er ihr das Stichwort ihrer ersten Liebe zurück.
    »Ein schöner Name, hätten Sie Lust, mit mir schwimmen zu gehen, Pati?«
    »Das ist sehr schmeichelhaft, eine junge Frau, die mich bittet …«
    »Vielen Dank für die junge Frau, Pati, Sie sind nett.«
    »Ich kenne Ihren Namen nicht.«
    Mimi drehte ihren Oberkörper dem geschrumpften, in einem Strandstuhl zusammengekauerten Mann zu.
    »Ich bin das Mädchen, das dich zum ersten Mal Pati nannte. Domenica, aber du hast mich Mimi genannt.«

Die rätselhafte Angst, die Pati vom Meer fernhielt, war eines der vielen Geheimnisse in dieser Geschichte.
    Und nur eine Frau hätte eine Ausnahme gestatten können.
    Eine Ausnahme vom panischen Schrecken.
    Mimi und Pati hatten sich wiedergefunden, aber eher wie zwei alte Freunde als wie zwei Liebende, die sich unter schwierigen Umständen geliebt hatten, ein Mädchen gezeugt und einander dann verloren hatten.
    Sie sprachen über ihre Arbeit, das Leben in der Schweiz und den Lauf der Ereignisse im Salento. Sie kauften Badesandalen, dann erblickten sie das Gerippe aus Plastik und Gummi einer Luftmatratze, das der Länge nach an einer Wand lehnte.
    Beim Aufblasen wechselten sie bissige Bemerkungen: »Alter Tattergreis, du kannst ja nicht mal mehr eine Luftmatratze aufblasen.« »Von wegen, ich bin schon fertig, das Ding sieht aus wie du, völlig platt.« Sie gingen bis zu einer ruhigen Bucht, in der auch Kinder badeten, wo Pati unbesorgt sein konnte. Mimi schickte Arianna eine Nachricht.
    »Mission wird gerade ausgeführt …«
    Antwort von Arianna: »Onkel total betrunken, hält Kundgebungen ab.«
    Pati war ein verletztes Tier, keuchend lag er steif wie ein vom Blitz erschlagener Toter auf der Luftmatratze und starrte in den blauen Himmel.
    Mimi schleifte ihn ins Wasser, erst so weit, wie er noch Boden unter den Füßen hatte, dann weiter hinaus bis ins tiefe Wasser. Pati wurde blass.
    »Ich habe Angst.«
    »Seltsam«, bemerkte Mimi ironisch.
    »Was soll das heißen?«
    »Ich habe dich immer für einen mutigen Jungen gehalten.«
    »Das war ich vielleicht auch, aber jetzt bin ich ein alter Mann, der sich vor allem fürchtet.«
    »Du wohnst wahrscheinlich umgeben von Stacheldraht und Wachhunden.«
    »Vor Dieben habe ich keine Angst.«
    Mimi verschwand im Wasser. Der smaragdgrüne Spiegel bildete einen Strudel, in dem das ewige junge Mädchen im schwarzen Badeanzug und den langen, feinen Tentakelhaaren sich verflüchtigte.
    Ein Schwall Bläschen stieg an die Meeresoberfläche. Mimi war nicht mehr da.
    Unendlich lange Sekunden verstrichen.
    Pati drehte sich nach beiden Seiten um und sah, dass das Meer reglos war, die Wellen nur angedeutet, das Ufer weit weg. Die Panik der Ozeane. Der Schwindel, den die einsamen Weltumsegler verspüren, das Magellan’sche Gefühl der Verlorenheit, blankes Entsetzen, aber ohne Sinn für das Grandiose, nichts als die grausige Erwartung eines Abgrunds aus Angst.
    Pati wurde noch bleicher, seine Stimme gellend, verzweifelt, die Stimme eines Kindes, weinerlich der Tonfall. »Mimi, wo bist du?« verwandelte sich in »Hilfe, Mimi!«
    Zwei Minuten

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