Zenjanischer Lotus (German Edition)
zurückzulehnen und den Luxus des bequemen Bettes zu genießen, war groß. Doch es gab zu viele Fragen, die nach Antworten verlangten.
Wo war er, was war passiert, wann war es passiert und warum war er frei von Schmerzen?
Vorsichtig setzte er sich auf die ungewohnt hohe Bettkante und wartete darauf, dass das Sausen in seinen Ohren nachließ. Um seinen verletzten Oberschenkel schmiegte sich ein sauberer
Verband, der das einzige Stück Stoff an seinem Körper darstellte.
Sothorn roch an seiner Achselhöhle. Man hatte ihn nicht nur ausgezogen, sondern auch gründlich gewaschen.
Als er auf die Beine kam, wurde ihm schwarz vor Augen. Kaum, dass er sich sicher auf den Füßen fühlte, erleichterte er sich in den bereitstehenden Eimer. Anschließend ging
er mit weichen Knien zum Fenster, schob den Stoff beiseite und blickte nach draußen.
Was er sah, traf ihn ebenso unvorbereitet wie seine gute Unterbringung.
Seine Kammer lag rund hundert Schritte über dem Meeresspiegel. Das Fenster war aus dem Felsen geschlagen worden, unter ihm tobte die Brandung. Die Steigung der Klippen war weniger steil als
in der Region um Balfere, sodass widerstandsfähige Bäume Halt am Hang fanden. Vom Ozean aus war die Zuflucht, die ihn aufgenommen hatte, zweifelsohne unsichtbar. Sothorn konnte fast nach
den Ästen einer blaugrünen Tanne greifen, die schräg vor seinem Fenster wuchs. Tief unten lag ein kleineres Segelschiff, das sich träge in den Wellen wiegte.
Sothorns Misstrauen wuchs. Er kannte die Landschaft um Balfere gut; die zerklüftete Landzunge, die nach Norden ein Stück ins Meer ragte, die gefährlichen Klippen, die
Sandstreifen. Er befand sich nicht in der Nähe seiner Heimat, auch nicht im Umkreis von Nadis.
Man hatte ihn fortgebracht. Aber wohin? Und wozu?
Auf der Suche nach seiner Rüstung und seinen Waffen öffnete er die Kommode, fand aber nur eine lockere Leinenhose und ein Hemd, das ihm ein bisschen zu klein war. Wenig begeistert zog
er die Sachen an und zupfte an dem leichten Stoff. Er fühlte sich nackt. Von seinen Dolchen war weit und breit nichts zu sehen; selbst seine Stiefel fehlten.
Erst verfolgt, dann mit Giftstacheln niedergestreckt, verschleppt, ausgeraubt, gepflegt. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Nachdenklich zwickte Sothorn sich in den Oberarm. Nichts. Kein Schmerz. Nur Taubheit. So wohl hatte er sich schon lange nicht mehr gefühlt.
Obwohl, nein, von Fühlen konnte keine Rede sein. Die Dunstglocke des Zenjanischen Lotus lag auf seinen Empfindungen, und dieser Umstand machte seine Situation erst recht
merkwürdig.
Ein knarrendes Geräusch ließ ihn herumfahren. Seine Ellenbogen schnellten zurück, als er versuchte, die nicht vorhandenen Klingen aus seinen Unterarmschienen zischen zu
lassen.
Eine schlanke, verhärmt wirkende Frau mit derben Zügen lehnte im Türrahmen und musterte ihn. Von einer freundlichen Bauersfrau hatte sie so viel wie er von einem gutherzigen
Priester.
„Du bist aufgewacht, wie ich sehe.“ Ihre Stimme klang gepresst, als kämpfe sie beim Sprechen gegen einen Widerstand an. Der raue Klang tat Sothorn in Kehle und Ohren
gleichermaßen weh.
„Wo bin ich?“, fragte er ohne Umschweife.
„Hast du Hunger? Oder ist dir noch übel?“
Sothorn wollte ungehalten auf eine Antwort auf seine Frage pochen, doch in diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass er wahrhaft hungrig war. Sein Bauch war ein verkrampftes Loch, das sich
selbst zu verschlingen drohte.
„Ja. Nein“, sagte er kurz angebunden und ließ die Fremde nicht aus den Augen. Er hatte sie nie zuvor gesehen. Der Gürtel voller Dolche um ihre kaum vorhandenen Hüften
ließ ihn ahnen, dass sie sich nicht übertölpeln lassen würde.
Sie gab einen hässlichen, abgehackten Laut von sich, den Sothorn nur mit Mühe als Lachen erkannte: „Was denn nun? Du musst dich schon entscheiden.“
„Ja, Hunger. Nein, nicht mehr übel“, erklärte er, während er langsam zum Bett zurückwich. Aus den Augenwinkeln suchte er nach einer Waffe. Nicht, dass er glaubte,
dass von der Fremden eine direkte Gefahr ausging, aber er wollte auf alles vorbereitet sein. Wie er befürchtet hatte, gab es in diesem Raum keine potenziellen Waffen. Höchstens ein Kissen
oder den Eimer mit seinem Urin.
„Gut. Wenn du Hunger hast, bist du auf dem Weg der Besserung.“ Sie klang fast freundlich, als sie sich durch ihren kurzen Haarschopf strich, der dem Fell eines Maulwurfs
ähnelte. „Ich bringe dir gleich etwas. Versuche nicht, dich
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