Zenjanischer Lotus (German Edition)
solches Unterfangen war. Das vergangene Jahr hatte ihn seiner Willenskraft beraubt. Umso näher er der Nutzlosigkeit und damit dem Tod kam,
umso leerer wurde sein Geist, umso farbloser seine Träume. Dass seine Existenz auf den Kopf gestellt wurde, dass man ihm einen Ausweg bot, überforderte ihn.
Mit geschlossenen Augen vergrub er das Gesicht im Kissen und konzentrierte sich auf sein Körpergefühl. Keine Schmerzen, die Trägheit hatte nachgelassen. Keine Muskeln, die vor
Kälte und Feuchtigkeit schmerzten. Nur das saubere Leinen auf seiner bloßen Haut und der Griff der ebenen Matratze, die seinen Rücken schonte.
Sothorn kam sich kindisch vor, als er die Wolldecke über seinen Kopf zog und sich tiefer in das warme Nest drängte.
Was empfand er? Erleichterung, Hoffnung, Angst?
Wie so oft waren Sothorns Emotionen von den Empfindungen seines Körpers abgeschnitten. Er konnte nicht sagen, ob er sich freute oder gut fühlte. Er wagte nicht, sich der aufkeimenden
Hoffnung hinzugeben.
Zu viele Gefahren lauerten hinter den Worten der Bruderschaft. Zu viele Schlupfwinkel, zu viele süße Früchte, die einen ausgehungerten Mann in eine Falle locken konnten.
Sein Körper aber wusste genau, was er empfand, rekelte sich in der Geborgenheit des Bettes und verlangte nach mehr. Mehr Behaglichkeit, mehr Schutz, mehr Nächte unter trockenen Decken,
fern von Ungeziefer.
Zu schön, um wahr zu sein. Und doch angeblich erreichbar. Was erwarteten sie von ihm für diesen Tropfen Freiheit? Dass er seiner Arbeit nachging. Sothorn wusste, dass er nie einen
guten Hehler abgeben würde – Zahlen machten ihn nervös, große Summen Silber ebenso -, aber alles andere war nicht schlimmer oder besser als das, was er für Stolan
von Meerenburg tat.
Als seine Gedanken sich zu seinem Dienstherren schlichen, spürte Sothorn ein Kribbeln in seinen Beinen. Er hätte Janis fragen sollen, ob sie Vorkehrungen in dieser Richtung getroffen
hatten und wie sie in der Vergangenheit mit den ehemaligen Besitzern der befreiten Assassinen umgegangen waren.
Er kräuselte die Nase. Er dachte zu weit. Noch hatte Sothorn keine Entscheidung gefällt. Nur, dass er keine Wahl hatte. Sterben war die einzige Option neben einer Mitgliedschaft in der
Bruderschaft.
Leben oder überleben. Ein Unterschied, wie Janis behauptete.
Sothorn konnte damit nichts anfangen, genau, wie er mit dem Wert der Selbstbestimmung nichts anfangen konnte, da er nie erfahren
hatte, was es bedeutete, sein eigener Herr zu sein. Das Leben als Meuchelmörder, als Schatten am Rande der Gesellschaft, war ärmlich, voller Gefahren und gezeichnet von Blut und Tod. Noch
wusste er nicht, welche Alternative die Bruderschaft ihm anbot.
Es war an der Zeit, es herauszufinden.
Sothorn war nicht verwundert, als er nach dem Aufstehen eine Schüssel Wasser neben der Tür vorfand. Man gab sich Mühe, ihn willkommen zu heißen. Ein fremdartiges
Gebaren.
Hastig wusch er sich und zog sich nach kurzem Zögern seine vertraute Lederbekleidung an. Die Klingen ließ er zurück, als er sein Zimmer verließ und sich in dem
schlauchartigen Flur umsah. Unsicher, wohin er sich wenden sollte, entschied er, zuerst den Raum zu besuchen, in dem er am Vortag mit Janis gesprochen hatte. Die zahlreichen Sitzgelegenheiten rund
um die Feuerstelle schienen zu einer Art Gemeinschaftsraum zu gehören.
Er nahm sich Zeit, sich umzusehen, während er durch den Flur schlenderte. Niemand begegnete ihm, sodass er in Ruhe die Statuen betrachten konnte, die in den Ausbuchtungen zu finden waren.
Die abgebildeten Kreaturen erinnerten ihn an kein Tier, dem er je begegnet war, aber sie erschienen ihm nicht bedrohlich; nur fremd. Fast wie die Bruderschaft selbst.
Schuppen, Flügel, gespaltene Zungen, Hauer und Dornen. Fell, Hufe, Krallen, Klauen, fledermausartige Ohren und treue Hundeaugen. Unkalkulierbar, potenziell gefährlich, aber auf eine
seltsame Weise schön.
Als Sothorn die Türen zum Gemeinschaftsraum erreichte, stockte er angesichts der Vielfalt an Stimmen, die ihm durch das versteinerte Holz entgegen schallten. Er war es nicht gewohnt, sich
mit Menschen zu umgeben. Ab und an hatte er auf seinen Reisen Tavernen besucht oder in Danais Schiff in einer ruhigen Ecke den Nachmittag verbracht. Weiter reichten seine sozialen Kontakte
nicht.
Die Vorstellung, einem Rudel fremder Menschen, nein, Meuchelmörder gegenüberzustehen, behagte ihm nicht. Doch es war vernünftig, sich seine Wegbegleiter anzusehen, bevor er
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