Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
Nummer 22 lag gleich rechts. Das Haus war grau gestrichen, die Fensterläden schwarz, und die Tür war rot lackiert. In der Einfahrt stand ein Van. Als ich an der Tür klingelte, bellte ein Hund.
Ich hätte hier leben können. Das hätte mein Heim sein können. In einem anderen Leben wäre ich vielleicht einfach durch diese Tür hineingegangen, anstatt mich ihr wie eine Fremde zu nähern; oben hätte ich vielleicht ein Zimmer mit lauter Pferdeturnierschleifen gehabt, mit Schuljahrbüchern und anderem Kram, den Erwachsene im Haus ihrer Kindheit zurücklassen. Ich hätte dir sagen können, in welcher Schublade das Silberbesteck lag, wo der Staubsauger stand und wie die Fernbedienung des Fernsehers funktionierte.
Die Tür öffnete sich, und Juliet Cooper stand vor mir. Sie tänzelte wie ein Terrier. »Mom?«, rief die Stimme eines Mädchens. »Ist das für mich?«
»Nein«, antwortete sie und ließ mich dabei nicht einen Moment aus den Augen.
»Ich weiß, dass du mich nicht sehen willst«, sagte ich rasch, »und ich verspreche, ich werde gleich wieder gehen und dich dann in Ruhe lassen. Aber zuerst musst du mir sagen, warum. Was habe ich an mir, dass ich so … so abstoßend bin?«
Ich wusste, dass das ein Fehler war. Maisie im Familiengericht hätte mich vermutlich festnehmen lassen, hätte sie gewusst, dass ich hier war. Jede Suchwebseite ermahnte Adoptivkinder nachdrücklich, genau das nicht zu tun, nämlich der leiblichen Mutter Anerkennung abzwingen zu wollen.
»Weißt du was?«, sagte ich. »Ich denke, nach fünfunddreißig Jahren schuldest du mir wenigstens fünf Minuten.«
Juliet kam heraus und schloss die Tür hinter sich. Sie trug keinen Mantel, und drinnen bellte der Hund in einem fort. Aber sie sagte kein Wort.
Eigentlich wollen wir alle dasselbe: Wir wollen geliebt werden. Diese Sehnsucht fördert manchmal unsere schlimmsten Seiten zutage: zum Beispiel Charlottes verbissenen Glauben, du würdest ihr eines Tages vergeben, was sie im Gericht über dich sagte. Oder meine versessene Fahrt nach Epping. Denn ich war gierig. Ich wusste, dass meine Adoptiveltern mich mehr wollten als alles andere, doch das war mir nicht genug. Ich wollte unbedingt wissen, warum meine biologische Mutter mich nicht hatte haben wollen. Andernfalls würde ich mich immer für eine Enttäuschung halten.
»Du siehst genau aus wie er«, sagte Juliet schließlich.
Ich starrte sie an, obwohl sie mir nicht in die Augen schaute. War es eine Affäre gewesen, die schlecht geendet hatte: Juliet schwanger und ohne Unterstützung? Hatte sie ihn noch geliebt, als ihr Baby schon auf der Welt und bei fremden Leuten war? Hatte es noch an ihr genagt, als sie sich ein neues Leben mit Mann und Familie aufbaute?
»Ich war sechzehn«, erzählte Juliet leise. »Ich bin auf dem Fahrrad von der Schule nach Hause gefahren, durch den Wald, eine Abkürzung. Er kam aus dem Nichts und hat mich vom Rad gestoßen. Er hat mir eine Socke in den Mund gestopft, mein Kleid hochgezogen und mich vergewaltigt. Dann hat er mich so übel zusammengeschlagen, dass meine Eltern mich nur noch an meiner Kleidung erkannt haben. Er hat mich blutend und bewusstlos im Wald liegen lassen, wo zwei Jäger mich gefunden haben.« Sie hob den Kopf, sodass sie mich endlich anschaute. Ihre Augen glänzten, ihre Stimme war dünn. »Wochenlang habe ich nicht gesprochen. Und dann, als ich schon glaubte, wieder von vorn anfangen zu können, habe ich festgestellt, dass ich schwanger war«, sagte sie. »Man hat den Kerl geschnappt, und die Polizei wollte, dass ich als Zeugin aussage, aber ich konnte nicht. Ich konnte es nicht ertragen, sein Gesicht wiederzusehen. Und als du dann geboren wurdest und eine Krankenschwester dich hochgehoben hat, da sah ich ihn wieder: das schwarze Haar, die blauen Augen und die schwingenden Fäuste. Ich war froh, dass eine andere Familie dich wollte, denn ich wollte dich nicht.«
Sie holte zitternd Luft.
»Es tut mir leid, wenn das nicht die glückliche Wiedervereinigung ist, auf die du gehofft hast. Aber wenn ich dich ansehe, kommt das alles wieder zurück, und ich habe so schwer darum gekämpft, es zu vergessen. Also bitte«, flüsterte Juliet Cooper, »würdest du mich jetzt allein lassen?«
Pass auf, was du dir wünschst. Wortlos wich ich zurück. Kein Wunder, dass sie mich nicht hatte ansehen wollen; kein Wunder, dass sie sich nicht über den Brief gefreut hatte; kein Wunder, dass sie mich aus ihrem Leben weghaben wollte. Ich hätte das Gleiche
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