Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
meine Süße«, sagte die Krankenschwester. Ihren Kopf zierte eine Wolke unnatürlich blonder Haare, und um ihren Hals baumelte ein Stethoskop. Sie hatte ein kleines Plastiktablett mit dem Infusionsbesteck dabei.
»Nadeln sind doof«, hast du gesagt.
»Willow! Nicht solche Worte!«
»Aber doof ist nicht wirklich ein Schimpfwort. Ich habe schon oft Dick & Doof im Fernsehen gesehen.«
»Na ja, Willow, das kommt immer drauf an«, murmelte die Krankenschwester und tastete deinen Arm ab. »Ich zähle jetzt bis drei und steche dich dann. Bereit? Eins … zwei!«
»Drei«, hast du geschrien. »Das war gelogen!«
»Manchmal ist es leichter, wenn man nicht damit rechnet«, sagte die Krankenschwester. »Aber das war keine gute Vene. Versuchen wir es noch einmal …«
»Nein«, unterbrach ich sie. »Gibt es auf dieser Station noch eine andere Krankenschwester, die dafür qualifiziert ist?«
»Ich lege schon seit dreizehn Jahren Infusionen …«
»Aber nicht bei meiner Tochter.«
Ihr Gesicht erstarrte. »Ich werde meinen Vorgesetzten holen.«
Sie schloss die Tür hinter sich. »Aber das war erst der erste Stich«, hast du gesagt.
Ich ließ mich neben dich aufs Bett sinken. »Sie war hinterhältig. Ich gehe keine Risiken ein.«
Du hast deine Finger über die Buchseiten gleiten lassen, als würdest du Blindenschrift lesen. Plötzlich sprang mir ein Satz ins Auge: Statistisch gesehen ist das zehnte Lebensjahr das sicherste im Leben.
Die Hälfte hattest du schon geschafft.
Es hatte auch seine guten Seiten, wenn sie dich über Nacht im Krankenhaus behielten. So musste ich mir keine Sorgen machen, dass du dort landen könntest. Nach der Infusion hast du tief und fest geschlafen, und ich schlich aus dem abgedunkelten Zimmer und zu den Münztelefonen neben dem Aufzug, um daheim anzurufen.
»Wie geht es ihr?«, fragte Sean, kaum dass er abgenommen hatte.
»Ihr ist langweilig, und sie wird allmählich unruhig. Wie immer. Und wie geht es Amelia?«
»Sie hat eine Eins in Mathe geschrieben und einen Anfall bekommen, als ich ihr gesagt habe, sie soll nach dem Abendessen spülen.«
Ich lächelte. »Wie immer.«
»Rate mal, was wir zum Abendessen hatten?«, sagte Sean. »Cordon bleu, Bratkartoffeln und kurz gedünstete grüne Bohnen.«
»Ja, klar doch«, erwiderte ich. »Du kannst doch nicht mal ein Ei kochen.«
»Ich habe nicht behauptet, dass ich gekocht habe. Der Imbiss in unserem Supermarkt war heute nur besonders gut sortiert.«
»Nun, Willow und ich haben heute ein wahres Festmahl genossen: Tapiokapudding, Hühnernudelsuppe und rote Götterspeise.«
»Ich will sie morgen früh anrufen, bevor ich zur Arbeit fahre. Um wie viel Uhr steht sie auf?«
»Um sechs, zum Schichtwechsel der Krankenschwestern«, antwortete ich.
»Ich stelle mir den Wecker«, sagte Sean.
»Übrigens … Dr. Rosenblad hat mich noch einmal wegen der Operation gefragt.«
Das war ein Streitpunkt zwischen mir und Sean. Dein orthopädischer Chirurg wollte deine Oberschenkelknochen mit einer Marknagelung stützen, sobald der Spreizgips abgenommen wäre, um in Zukunft zu vermeiden, dass sie erneut aus der Hüftpfanne springen, sollte es wieder zu einem Bruch kommen. Die Marknagelung würde auch einer Verkrümmung vorbeugen, sagte er, denn die Knochen eines OI -Patienten wüchsen spiralförmig; das sei die beste Art, der Krankheit Herr zu werden, zumal man sie nicht heilen könne. Während ich für alles Feuer und Flamme war, was dir in Zukunft Schmerzen ersparte, schaute Sean mehr auf das Hier und Jetzt – und auf die Tatsache, dass du durch solch eine Operation wieder auf längere Zeit gehunfähig wärst. Ich konnte förmlich sehen, wie er sich versteifte. »Hast du dir nicht irgendwann mal einen Artikel darüber ausgedruckt, was derartige Gestänge für Kinder mit OI bedeuten …?«
»Was du meinst, sind Gestänge an der Wirbelsäule gegen Skoliose«, erwiderte ich. »Bei denen würde Willow nicht mehr wachsen. Das hier ist jedoch etwas anderes. Dr. Rosenblad hat gesagt, das Gestänge sei so hoch entwickelt, dass es sogar mitwächst – teleskopartig.«
»Und was, wenn sie sich den Oberschenkel gar nicht mehr bricht? Dann hat sie die Prozedur umsonst über sich ergehen lassen müssen.«
Die Wahrscheinlichkeit, dass du dir nie wieder ein Bein brichst, war ungefähr so hoch wie die, dass die Sonne nicht mehr aufgeht. Das war auch so ein Unterschied zwischen Sean und mir: Ich war der Pessimist. »Möchtest du wirklich, dass sie noch
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