Zero Day
abzufahren, hockte er sich auf die Motorhaube des grünen Armee-Fords und betrachtete das fünfeckige Bauwerk – das größte Einzelbürogebäude der Welt. Am 11. September 2001 hatte es eine schwere Attacke hinnehmen müssen, heute jedoch war es widerstandsfähiger als je zuvor. Gegen Ende der 1990er-Jahre war eine umfängliche Renovierung des damals fast sechzig Jahre alten Baus in Angriff genommen worden. Es war die reinste Ironie, dass ein Jumbo der American Airlines, in dem zeitweilig Verrückte am Steuer saßen, genau den Teil zerstörten, der zuerst renoviert worden war. Über zehn Jahre später war die gesamte Renovierung des Gebäudes fast abgeschlossen. Diese Entwicklung legte ein klares Zeugnis für die amerikanische Wehrfähigkeit ab.
Puller schaute in die Gegenrichtung und sah auf dem umzäunten Grundstück einer Tagesstätte, die auf dem Gelände des Pentagons stand, Kinder spielen. Das war es wohl, vermutete er, wofür das Militär immerzu kämpfte: die Rechte und die Freiheit der nächsten Generation. Als Puller sah, wie kleine Jungs und Mädchen Plastikrutschen hinabsausten oder auf Spielzeugpferden ritten, fühlte er sich trotz der Situation ein wenig besser. Aber wirklich nur ein wenig. Unverändert stand er vor der Aufgabe, einen oder mehrere Mörder zu entlarven, war dem Erfolg aber noch genauso fern wie anfangs, als er den Auftrag erhalten hatte.
Sein Handy summte, und er nahm es aus der Tasche. Die Textnachricht war kurz, las sich jedoch verlockend.
Armee- und Marine-Club, Stadtmitte, 19 Uhr. Ich finde Sie.
Puller wusste nicht, von wem die SMS stammte, doch offenbar verstand der Absender ihn zu kontaktieren. Einen Moment lang betrachtete er den Text, dann schob er das Handy zurück in die Tasche und warf einen Blick auf die Armbanduhr. Ihm blieb noch genug Zeit für einen weiteren Besuch. Er hatte ihn sich für den Aufenthalt an der Ostküste ohnehin vorgenommen, doch nachdem er einige Zeit mit der kaputten Familie Cole verbracht hatte, empfand er ihn als umso wichtiger.
Er trat aufs Gaspedal und sah das Pentagon im Innenspiegel aus dem Blickfeld verschwinden.
51
»Ach, sieh an, mein ausführender Offizier. Was führt Sie her?«
Puller hatte vor dem Mann Haltung angenommen. »Melde mich zurück, Sir«, gab er zur Antwort.
Sein Vater saß neben dem Bett auf einem Stuhl. Er trug eine Schlafanzughose, ein weißes T-Shirt und einen hellblauen, um die Hüfte mit einem Gürtel geschlossenen Baumwollbademantel. Die langen, schmalen Füße wurden von Socken und Hausschuhen bedeckt. Früher war er über eins fündundachtzig groß gewesen, mittlerweile war er durch die Last der Jahre und ständige Kränkelei gebeugt und fünf Zentimeter kleiner. Er überragte nicht mehr die meisten Zeitgenossen, zumal er immer seltener auf den Beinen stand. Tatsächlich verließ er das Zimmer des Veteranenheims so gut wie nie. Das Haar war ihm fast gänzlich ausgefallen. Der Rest war weiß wie Watte und bildete knapp hinter den Ohren einen Kranz, der aussah, als hätte man die Spitzen vieler Q-Tips zusammengenäht.
»Rühren«, sagte Puller senoir.
Puller lockerte die Gliedmaßen, blieb jedoch stehen. »Wie ist der Ausflug nach Hongkong verlaufen, Sir?«, fragte er. Eigentlich war es ihm zuwider, sich auf ein derartiges, aus seiner Sicht albernes Rollenspiel einzulassen, aber die Ärzte vertraten die Auffassung, es sei besser. Obwohl Puller den Hirnklempnern wenig Vertrauen entgegenbrachte, hatte er sich ihrem Rat gebeugt, doch allmählich verschliss seine Geduld.
»Dem Transportflugzeug ist beim Start ein Reifen geplatzt. Bin gar nicht erst hingekommen. Wäre fast im Großen Teich gelandet.«
»Tut mir leid, Sir.«
»Nicht halb so sehr, wie es mir leidgetan hat. Wissen Sie, Hauptfeldwebel, ich hätte dringend etwas Abwechslung vertragen können.«
»Gewiss, Sir.« Als sein Vater ihn anschaute, bemerkte Puller wieder die fortschreitende Veränderung seiner Augen. Zum Anekdotenschatz der Armee gehörte auch, dass Puller senior mit dem Blick töten könnte, indem er jemandem, der sein Vertrauen enttäuscht hatte, durch bloßes Anschauen so tiefe Scham verursachte, dass er einfach umkippte und starb. Natürlich war daran kein wahres Wort. Allerdings war Puller schon mit zahlreichen Männern ins Gespräch gekommen, die unter seinem Vater gedient hatten und einmal von einem solchen Blick getroffen worden waren, und jeder von ihnen hatte beteuert, er würde sich bis zu seinem letzten Tag auf Erden daran
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