Zero Day
»Sie machen irgendwen nervös. Den Zettel haben Sie im Motel gefunden?«
»Jemand hat den Wisch unter der Tür durchgeschoben, während ich unter der Dusche stand.«
»Sie werden also beobachtet?«
»Offensichtlich.«
»Haben Sie inzwischen irgendeinen Schimmer, was hier eigentlich los ist?«
»Noch nicht«, bekannte Cole. »Aber die Täter haben die Sache jetzt in den Rang eines persönlichen Konflikts erhoben. Deshalb werde ich bis auf Weiteres jede wache Sekunde in die Lösung des Falles investieren, Sheriff.«
Lindemann nickte und spuckte nochmals aus. »Wohl ’ne Allergie. Hatte noch nie so was.« Er sah Puller an. »Möchten Sie Personenschutz von der Polizei?«
»Nein, ich komme schon klar.«
»Wie Sie wünschen. Okay, dann fahre ich jetzt nach Hause. Meine Frau wartet mit dem Essen auf mich.«
»Geben Sie auf sich acht, Sheriff«, empfahl Cole.
»Haben Sie es auf seinen Posten abgesehen?«, fragte Puller, als Lindemann losfuhr. »Innerlich hat er ja schon abgedankt.«
»Er ist ein fähiger Polizist. Aber er ist schon seit über dreißig Jahren im Dienst, und ich bezweifle, dass er je damit gerechnet hat, kurz vor seiner Pensionierung könnte noch etwas so Schlimmes passieren.« Sie öffnete die Autotür. »Ich habe erfahren, dass Sie in Annie’s Motel Louisas Lebensretter gewesen sind«, fügte sie hinzu. »Da haben Sie wirklich eine gute Tat vollbracht.«
»Louisa brauchte Hilfe, also habe ich geholfen. Nichts Besonderes. Wie geht es ihr?«
»Keine Ahnung. Ich hatte noch keine Gelegenheit, in der Klinik anzurufen. Aber ohne Ihr Eingreifen wäre sie jetzt ganz bestimmt tot.«
»Kennen Sie sie?«
»Jeder kennt Louisa. Sie zählt zum Salz der Erde.«
»Es ist schön, dem Salz der Erde behilflich sein zu können«, sagte Puller halblaut. »Meistens ziehen diese Menschen den Kürzeren.«
Cole legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich will nicht, dass Sie sich wegen des Stolperdrahts mit Selbstvorwürfen quälen, Puller.«
»Wäre mir so ein Fehler in Übersee unterlaufen, hätte es meinen ganzen Zug das Leben gekostet.«
»Wir sind aber nicht tot.«
»Stimmt«, bestätigte Puller. Dennoch empfand er Missmut.
Er stieg in den Malibu und fuhr Cole hinterher.
36
Nach einer Fahrt von fünfundzwanzig Minuten bog Cole in eine Straße mit älteren, gepflegten Häusern ein, die frontseitig breite Veranden und saubere Rasenflächen aufwiesen. Sie hielt in der Einfahrt eines Hauses mit asymmetrischem Satteldach, einer Verkleidung aus grauen Schieferplatten, weißem Gartenzaun und farbenprächtigem Vorgarten. Das Haus sah eher nach Neuengland als nach West Virginia aus.
Puller stieg aus, entnahm dem Kofferraum die saubere Kleidung und stieß an der Haustür zu Cole. »Hübsches Eigenheim. Wie lange wohnen Sie hier schon?«
»Ich bin hier aufgewachsen.«
»Ihr Elternhaus?«
»Nach dem Tod meiner Eltern habe ich es gekauft.«
»Sind sie zur gleichen Zeit gestorben?«
»Ja.« Offenbar wollte Cole nur ungern Einzelheiten preisgeben.
»Das Haus erweckt den Eindruck«, sagte Puller, »als gehörte es an die Felsenküste Maines.«
»Ich weiß. Eben deshalb gefällt es mir so gut.«
»Zieht es Sie ans Meer?«
»Vielleicht habe ich so eine Neigung.«
Pullers Blick glitt über die Häuser der Nachbarschaft. »Ihr Haus hebt sich deutlich ab. Wie ist das zu erklären?«
»Mein Vater war eine Zeit lang bei der Marine. Als junger Mann hat er praktisch die ganze Welt bereist. Vater hatte das Meer ins Herz geschlossen. Er hat das Haus eigenhändig erbaut.«
Puller legte die Hand an einen der starken Stützpfosten der Veranda. »Er muss ein erstklassiger Handwerker gewesen sein. Wieso hat er sich hier niedergelassen, obwohl er eher ein Seefahrertyp war?«
»Vater stammte aus West Virginia. Er ist schlichtweg in die Heimat zurückgekehrt. Ich muss noch ein paar Leute anrufen. Das Bad ist im Obergeschoss. Sie finden oben auch Handtücher und was man sonst so braucht.«
»Danke.«
Ohne Schwierigkeiten fand Puller das Badezimmer, drehte die Dusche auf, streifte die Kleidung ab und stellte sich unter den Wasserstrahl. Fünf Minuten später war er trocken, vollständig bekleidet und hatte das Bad verlassen. Im Flur begegnete er Cole, die sich in einen langen Frotteebademantel gehüllt hatte. »Gütiger Himmel, Sie sind schon fertig?«, rief sie und starrte ihn entgeistert an. Da sie jetzt barfuß lief, überragte er sie um rund dreißig Zentimeter.
»Wenn innerhalb kürzester Frist tausend junge
Weitere Kostenlose Bücher