Zerrissenes Herz (German Edition)
zu entzünden, aber das war ihr eigentlich egal. Sie verbrauchten eine ganze Schachtel Streichhölzer, und erst das letzte Hölzchen entzündete endlich die Flammen an den kleinen Ästen, die sie als Anmachholz benutzten. Als der Wind den Rauch in Daisys Richtung trug, drängte sie sich nur zu gern an Julian. Er machte keine Anstalten, ihr näher zu kommen, aber er rutschte auch nicht weg. Einfach nur in seiner Nähe zu sein fühlte sich unglaublich an. Es war ganz anders als das Rumgemache mit den Jungs von der Schule unter den Zuschauerbänken im Sportstadium oder in den Wohnheimen der Columbia University, wo sie bezüglich ihres Alters gelogen hatte, um auf eine Collegeparty zu kommen.
Als die Flammen erst einmal fröhlich in der Feuergrube tanzten,merkte Daisy, dass Julian ihr Spiegelbild auf der schwarzen Oberfläche des Sees betrachtete.
„Ich bin schon einmal hier gewesen“, sagte er. „Als ich acht war.“
„Echt? Du warst hier im Sommercamp?“
Er lachte leicht. „Ich hatte nicht wirklich eine Wahl. Connor ist in dem Jahr als Betreuer hier gewesen und musste den Sommer über auf mich aufpassen.“
Sie wartete auf weitere Erklärungen, doch er schwieg. „Weil …?“, hakte sie nach einer Weile nach.
Sein Lächeln schwand. „Weil es sonst niemanden gegeben hat.“
Die Einsamkeit, die aus seinen Worten sprach, und der Gedanke an ein Kind, das niemanden hatte außer seinem Halbbruder, berührten Daisy. Sie beschloss, ihn nicht nach Einzelheiten zu fragen, auch wenn sie unbedingt mehr über diesen Jungen erfahren wollte. „Und was hat dich dieses Mal hierher geführt?“
„Meine Mutter ist eine arbeitslose Künstlerin – sie singt, tanzt, schauspielert.“
Wie, dachte er etwa, sie würde ihn so leicht vom Haken lassen? „Das ist die Geschichte deiner Mutter. Mich interessiert aber deine.“
„Ich hab im Mai Ärger mit dem Gesetz bekommen“, antwortete er nun.
Na, das ist mal interessant, dachte sie. Faszinierend. Gefährlich. Sie beugte sich vor und rückte noch ein Stück näher heran. „Worum ging’s? Hast du ein Auto geklaut? Mit Drogen gehandelt?“ In der Minute, in der ihr die Worte über die Lippen gekommen waren, wollte sie am liebsten sterben. Sie war so ein Idiot. Er würde sicher denken, dass sie wegen seiner Hautfarbe Vorurteile hatte.
„Ich habe ein Mädchen vergewaltigt“, erwiderte er. „Vielleicht auch drei.“
„Okay“, lenkte sie ein. „Das hab ich verdient. Und ich weiß, dass du lügst.“ Sie schlang sich die Arme um die angezogenen Knie.
Eine Weile war er schweigsam, als überlege er, ob er sauer sein sollte oder nicht. „Lass mich überlegen. Sie haben mich dabei erwischt, wie ich nach Einbruch der Dunkelheit vom Zehnmeterturm im geschlossenen Freibad gesprungen bin, mit meinem Skateboard die Rampe eines Parkhauses runtergefahren bin … solche Sachen. Vor ein paar Wochen haben sie mich geschnappt, als ich mit einem selbst gemachten Bungeeseil von einer Highwaybrücke gesprungen bin. Der Richter hat mir für den Sommer einen Umgebungswechsel verordnet und gesagt, dass ich etwas Produktives tun soll. Glaub mir, dabei zu helfen, ein Sommercamp in den Catskills zu renovieren, ist das Letzte, worauf ich Bock hab.“
Das Bild, das sie sich von ihm gemacht hatte, war innerhalb von Sekunden auf den Kopf gestellt worden. „Warum solltest du einen Bungeesprung von einer Brücke machen?“
„Warum nicht?“
„Oh, lass mich überlegen. Du könntest dir jeden Knochen im Leib brechen. Gelähmt enden. Hirntot. Total tot.“
„Jeden Tag sterben Menschen.“
„Ja, aber von Brücken zu springen beschleunigt den Prozess.“ Allein bei der Vorstellung lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunter.
„Es war großartig. Ich würde es sofort wieder tun. Ich hab fliegen schon immer geliebt.“
Damit hatte er ihr die perfekte Vorlage geliefert. Daisy griff in ihre Tasche und nahm ein Brillenetui heraus. Als sie es aufschnappen ließ, kam ein fetter, unförmiger Joint zum Vorschein. „Dann wird dir das hier gefallen.“
Mit dem glühenden Ende eines Zweiges zündete sie den Joint an und inhalierte tief. „Das ist meine Art zu fliegen.“ In der Hoffnung, ihn schockiert zu haben, hielt sie Julian den Joint hin.
„Danke, nein.“
Was? Wer schlug denn einen Zug vom Joint aus?
Er schien ihre Gedanken zu lesen, denn er fügte grinsend hinzu: „Ich muss aufpassen. Der Richter in Kalifornien hat meine Mutter vor die Wahl gestellt – entweder ich verlasse einen
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