Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
allem, was passiert ist? Die Kampfgeräusche hinter uns ebben ab, die Schreie verklingen, es gibt nur noch diesen Augenblick. Nur noch den Moment, in dem wir uns ansehen. Ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten, gehe in die Knie.
»Lassen Sie mich gehen«, flüstere ich.
»Das kann ich nicht.«
»Bitte.«
Coulson schüttelt den Kopf. Was hinter uns passiert, nehme ich kaum wahr, es gehört zu einer anderen Welt, losgelöst von dieser. Dennoch dringt ein hartnäckiges Geräusch zu uns durch, kommt näher.
Bis …
Coulson nimmt die Pistole in beide Hände und feuert.
Die Kugel trifft nicht mich, streckt mich nicht tödlich zu Boden, das Geräusch des Aufpralls und der Schrei kommen von hinten. Ich fahre herum.
»Katran?«
Er drückt die Hände auf die Brust. Als er nach hinten kippt, spritzt das Blut zwischen seinen Fingern hervor; in meinem Kopf dreht sich alles, die Welt verschwimmt, entfernt sich, weg von diesem erneuten Grauen, und …
Nein. Mit aller Macht kämpfe ich dagegen an. NEIN. Ich krieche zu Katran, nehme seine Hand und schlinge die Arme um ihn. Er zuckt, rot, rot, rot …
»Es tut mir so leid«, sage ich wieder und wieder; uns beiden steht der Schock ins Gesicht geschrieben. Katran ist doch unbesiegbar, wir können es nicht fassen. Mit einem Mal ändert sich der Ausdruck in seinen Augen, er will mir etwas sagen, hustet aber nur, Blut fließt aus der Wunde. Die Worte kommen ihm nicht mehr über die Lippen, aber seine Augen sprechen Bände. Liebe steht darin. »Nein, Katran, nicht. Verlass mich nicht!« Ich bin wie vor den Kopf gestoßen, aber gleichzeitig weiß ich, dass es wahr ist. Schon immer hat er so für mich empfunden, die Gefühle gut verborgen hinter all der Wut. Mit der er mich wegstoßen wollte, weg von Nico und Free UK. Damit mir nichts geschieht.
Sein Blick wird leer, sein Körper zuckt nicht mehr.
Nein.
NEIN, NEIN, NEIN! Ich schreie und plötzlich erinnere ich mich wieder. An einen anderen Ort und eine andere Zeit, die diesem Moment zu ähnlich sind, als dass ich mich noch länger davor verstecken könnte. Ein Moment, den ich vergessen möchte, aber an den ich immer wieder zurückgezerrt werde.
DAMALS
Zunächst habe ich ihn nicht erkannt. Nicht äußerlich zumindest.
Er war so verändert, sein Gesicht aus meinem Gedächtnis gelöscht. Wenigstens bewusst. Doch irgendwas hat er in mir ausgelöst, eine Mischung aus Furcht und Sehnsucht. Ich konnte mir nicht erklären, warum ich ihn immer anstarren musste.
Er hat dort Proviant und dergleichen angeliefert. Aber er war nicht bloß irgendein Lieferant, er gehörte dazu, das war offensichtlich. Durch die Gitter meines Fensters habe ich gesehen, wie er mit den Wachmännern gesprochen hat. Zwei Jahre war ich schon in demselben Zimmer.
Einmal die Woche kam er und blieb für eine Nacht im Nachbargebäude. Eines Tages bemerkte er, wie ich ihn durch die Stäbe beobachtete. Ein Anflug von Verzweiflung trat auf sein Gesicht, um sogleich von einer Güte und Sanftheit ersetzt zu werden, die unangebracht schienen. Aufgewühlt und verwirrt tauchte ich wieder in mein Zimmer ab.
Jede Woche hat er mich mit diesem besonderen Ausdruck angesehen. Ein freundlicher Blick an einem freundlosen Ort.
Nach einer Weile fing er an, den Wachen klammheimlich Dinge wie Getränke zuzustecken. In einer Woche waren dann fast alle Wachen sehr krank, Lebensmittelvergiftung. Wir anderen blieben davon verschont. Der Mann blieb die Woche über, sprang als Ersatz ein und ich sah ihn häufiger, nicht nur durchs Fenster. Er war dabei, wenn ich zu Dr. Craig gebracht wurde oder zurückkam; beim Waffentraining, das von dem herzlosen Mann mit den seltsamen Augen beaufsichtigt wurde, der auch die Wachen kommandierte.
Eines Tages hat er mir etwas zugesteckt. Fast hätte ich erschrocken aufgeschrien, als ich den Zettel sah. Eine Nachricht. Doch ich habe sie versteckt und später gelesen. Lucy, auch wenn ich anders aussehe, ich bin es, Daddy. Ich musste mich tarnen. Sobald ich einen Plan habe, hole ich dich hier raus und bringe dich nach Hause. Ich hab dich lieb.
Dann habe ich den Zettel in winzige Fetzen zerrissen. Ich habe keine Familie mehr, das hat mir Dr. Craig eingebläut. Und selbst wenn dieser Mann mein Vater sein sollte – ich halte es kaum aus, in solchen Begriffen zu denken – hat er mich doch weggeben. Hat mich nicht gewollt.
Ich wusste, dass ich dem Brief keinen Glauben schenken durfte, dennoch habe ich mich dabei ertappt, wie ich Hoffnung schöpfte,
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