Zersplittert: Dystopie-Trilogie Band 2 (German Edition)
Sofort begibt er sich in Kampfstellung, nimmt die Fäuste hoch. »Soll ich ihn für dich erledigen?«
Ich verdrehe die Augen. »Es ist eine Sie. Du hältst jetzt mal kurz die Klappe und lässt mich nachdenken.«
Cam schweigt. Ich muss Tori gründlich ablenken. Natürlich könnte ich sie in einen Kampf verwickeln, aber es gibt noch eine andere Möglichkeit: Ben. Leise seufze ich vor mich hin. Ich habe furchtbare Schuldgefühle und will ja das Richtige tun. Ich muss Tori sagen, dass Ben noch lebt. Das müsste reichen, um sie von ihren Wärterpflichten abzulenken.
»Okay. Was hältst du davon?«, frage ich. »Ich laufe rein und lotse die Wache raus. Dann gehe ich mit ihr zum Reden hinters Haus. Du schlüpfst rein und befreist die Gefangene.« Ich beschreibe ihm die Raumaufteilung drinnen und in welcher Schublade der Schlüssel liegt. Hoffentlich steckt Tori ihn nicht ein.
»Kapiert«, sagt er. »Kein Problem.«
Darüber kann ich nur den Kopf schütteln. Es könnten alle möglichen Probleme auftauchen.
Cam postiert sich um die Ecke des Eingangs, damit Tori ihn beim Rausgehen nicht sieht. »Ich gehe hinten rum, falls sie den Weg beobachtet. Also, gib mir ein bisschen Zeit.«
Während ich durchs Gehölz schleiche und Geräusche zu vermeiden versuche, lässt mir der Gedanke keine Ruhe, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Cam dürfte gar nicht hier sein. Vor allem aber, wie hat er bloß hergefunden?
Wie angewurzelt bleibe ich stehen und gebe den bohrenden Zweifeln nach. Ich war so mit meiner Wut beschäftigt und damit, Cam loszuwerden und mir zu überlegen, wie es notfalls mit ihm weitergehen sollte, dass mir die entscheidende Frage entgangen ist: Wie ist Cam mir überhaupt gefolgt? Er muss doch ein gutes Stück hinter mir gewesen sein. Immerhin hat er mit dem Wagen so weit zurückgesetzt, dass ich den Motor nicht mehr gehört habe, dann hat er wohl abgewartet und ist wieder zurückgekommen. Woher aber hat er gewusst, welchen Weg er im Wald einschlagen muss? Außerdem bin ich gerannt, wie konnte er da nur mithalten?
Schlagartig wird es mir klar. Entweder ist Cam ein Meister im Fährtenlesen und der lautlosen Verfolgungsjagd, oder, was wesentlich wahrscheinlicher ist, er hat sich zurückfallen lassen, weil er mich orten kann. Ich kapier das nicht, das passt doch nicht zusammen! Cam?
Vorsichtig schleiche ich zurück. Vielleicht hat er einfach nur Glück gehabt, ist durch Zufall auf den Motorradweg gestoßen. Und ist man der Fährte erst einmal eine Weile gefolgt, werden die Markierungen auch deutlicher.
Unwahrscheinlich.
Cam steht noch an Ort und Stelle, wartet wie befohlen. Ich stehle mich näher heran. Er hat mir den Rücken zugewandt, beugt sich leicht vor und macht irgendetwas mit den Händen. Ein schwaches metallisches Klicken. Als er sich zur Seite wendet, sehe ich die Waffe in seiner Hand und den mörderischen Blick in seinen Augen.
Cam? Mit einer Waffe?
Der Schock ist so groß, dass ich einen unbedachten Schritt mache. Durch das Geräusch alarmiert, dreht er sich um, sieht mich, und nun bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn anzugreifen. Ich trete ihm die Waffe weg.
»Wer bist du?«, stoße ich hervor.
Keine Antwort. Doch nun blitzt ein Messer in seiner Hand auf. Er stürzt sich auf mich, täuscht an. Ich tauche weg, aber nicht schnell genug, etwas presst gegen meine Schulter, ein Schnitt. Mir fällt die kleine Pistole ein, ungeschickt zerre ich am Holster, doch da verspüre ich schon den nächsten brennend heißen Stich in der Seite, tiefer diesmal. Zum Teufel mit dem Ablenkungsmanöver. Ich brauche Hilfe. Nur ein paar Schritte und schon taumle ich rückwärts über den verdeckten Stolperdraht und breche am Boden zusammen.
Cam tritt mit einem Lächeln auf mich zu, aber es spiegelt sich nicht in seinen Augen wider, und es ist auch nicht der Cam, den ich bislang gekannt habe.
»Wer bist du? Und was bist du?«, flüstere ich und halte mir die Seite, meine Finger sind rot und klebrig nass. Mir wird schwindelig. Aus einem Cam werden vier, fünf Cams, die ganz verändert und hässlich sind.
Er steht mit dem Rücken zum Haus, daher bemerkt er Tori nicht, die mit der Pistole in der Hand um die Ecke kommt. Ihr steht die Unentschlossenheit ins Gesicht geschrieben, zumal sie eine lausige Schützin ist. Tori schleicht näher und zieht ihm eins über den Schädel.
Ein widerlich krachendes Geräusch ist zu hören. Noch einmal dreht sich Cam um und stürzt dann der Länge nach hin, mit dem Gesicht nach
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