Zerteufelter Vers (German Edition)
Luft ab, wenn er daran dachte, dass er nicht länger bei Gloria sein konnte… Und das Schlimmste: Noch nie war Kirt nicht Herr der Lage gewesen. Nichts schien mehr real. Gloria hingegen durfte gehen und verließ damit diese seltsame Szenerie; draußen wurde es bereits hell.
Dass sie es hier mit etwas zu tun hatte, dem sie nicht gewachsen war, ahnte Gloria schon in jenem Augenblick, in dem ihnen die Polizisten das Foto auf den Tisch legten – wie auch immer es entstanden war. Doch was Gloria noch mehr schockierte: Kirt wusste davon. Er hatte nicht geahnt, dass es ein Foto gab, doch er wusste, dass noch eine weitere Person dort gewesen war: An der Autobahnbrücke… an dem Ort, an dem Jansen starb! Was eben in dieser Polizeistation passiert war, kam Gloria unwirklich vor. Aber ein ungutes Gefühl ließ sie erahnen, dass wenn selbst Kirt geschockt dreinsah, die ganze Sache schwerwiegendere Folgen haben könnte, als sie es sich in diesem Moment vorstellte.
24 Verkehrte Welt
Gloria fühlte sich ausgebrannt. Alles drehte sich im Kreis. Gestern Morgen noch waren sie mit dem Motorrad gemeinsam über die Autobahn gefahren. Alles erschien wie immer. Jetzt nicht mehr: Wie fremdgesteuert lief Gloria die letzten Meter zu Kirts Wohnung. An seinem Schlüsselbund befanden sich drei Schlüssel: Für die Haustür, das Motorrad und die Wohnungstür. Gloria schob den passenden ins Schloss und nahm im Treppenhaus bei jedem Schritt gleich zwei Stufen auf einmal. So viele Gedanken – und doch kein einzig klarer. Das Buch… Wo hatte sie es hingelegt?
Gloria stürzte regelrecht ins Schlafzimmer. Hier hatte sie ihren Rucksack liegen gelassen. Sämtliche Klamotten zog sie hastig heraus, die sie neben sich auf den Boden warf. Ganz unten musste es sein – das Buch! Sie wusste es, sie ahnte es: Immer, wenn etwas derart Absonderliches geschehen war, hatten sich auch die Linien des Buches auseinandergezogen und einen neuen Inhalt preisgegeben. Wenn sie eines nicht im Stich lassen würde, dann dieses – ihr – Buch!
Hastig schlug Gloria es auf und blätterte die Seiten zur letzten Stelle, an der ein leserlicher Text gestanden hatte. Es kam ihr vor, als wäre es unendlich lange her gewesen, dass sie in Weimar das letzte Mal einen Text las. Und da stand es – ein neues Gedicht; und es war endlich länger, als die letzten, die das Buch preisgegeben hatte. Hastig verschlang Gloria die Verse…
Die Saat
Warum
Wozu
Weshalb – fragst du
Wieso
Und jetzt
Messer gewetzt
Woher
Wohin
Ich sag, der Sinn
vom Was und Wer
ist folgenschwer
Denn fadenscheinig
Zweifel sät
Er, der fern dem hellen Weg
Gespött kreuzt Hohn
und monoton
Es tickt die Uhr
das will er nur
Er schadenfreudig
flüstern mag
Der Spott, er ist des Teufels Saat.
Glorias Blick blieb an der letzten Zeile kleben. Langsam krochen die Gedanken durch ihren Kopf und sie fühlte sich unweigerlich an damals erinnert – als sie Kirt noch nicht von dem Buch erzählt hatte und den Inhalt der rätselhaften Gedichte selbst entziffern musste. Zu gern hätte sie Kirt einfach das Buch in die Hand gedrückt und ihn gebeten, für sie den Inhalt ins Normalverständliche zu übersetzen. Schadenfreudigkeit, Spott und Hohn… Gloria versuchte krampfhaft, einen klaren Gedanken zu finden. Sie konnte sich kaum konzentrieren. Ein zu großer Wirrwarr herrschte in ihr, was Gloria jeden logischen Gedanken zerriss.
‹Ich sag, der Sinn vom Was und Wer ist folgenschwer…› Ja, das sagte Gloria ihr Bauchgefühl auch! Und damit lag sie fast immer richtig. Aber kaum ging es an die Begründung, verließen sie Gloria auch schon… Kirt wusste mehr, als er ihr erzählt hatte. – Nicht nur von anderen Lebensweisen, sondern auch von einem Geschehnis, das sie beide auf eine ganz eigene Weise verband: Der Versuch, Jansen zu retten. In Anbetracht der Tatsache, welchen Horizont Kirt überblicken konnte, musste er sie damals extrem belächelt haben! Manchmal war Kirt für ihren Geschmack etwas zu cool mit dem ganzen umgegangen…
Mag sein, dass er wirklich über den Dingen gestanden hatte, aber zumindest gab er ihr schon damals nicht das Gefühl! Sie war ein kleines, dummes Mädchen. Und Kirt hatte von Anfang an gewusst, dass ihr jenes Buch von Dingen erzählte, die ihr unheimlich vorkamen. Ein entmutigendes Gefühl stieg plötzlich in Gloria auf. Sie wusste nichts von all den Horizonten, die er überblicken konnte. Sie war allein!
Gloria setzte sich in den Schneidersitz und legte das Buch
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